Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1304.001 2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der modernen pvi_1304.021
pvi_1304.001 2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der modernen pvi_1304.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0166" n="1304"/><lb n="pvi_1304.001"/> welche Handlung, Fülle, Bild darboten, besser benützt und ausgebildet, so <lb n="pvi_1304.002"/> wäre nur ein sich widersprechendes Ganzes entstanden. Milton's und Klopstock's <lb n="pvi_1304.003"/> Epen sind und bleiben im historischen Zusammenhange der Literatur <lb n="pvi_1304.004"/> höchst merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche <lb n="pvi_1304.005"/> Empfindungsleben in erhabener Gestalt auszusprechen, und der neue Sinn <lb n="pvi_1304.006"/> der Objectivität, der Zeichnung (dieser freilich bei Milton kräftiger, als bei <lb n="pvi_1304.007"/> Klopstock), der in der beschreibenden Poesie vorher auf falschem Wege begriffen <lb n="pvi_1304.008"/> war, in der Nachbildung Homer's sich Luft machte, aber wir halten <lb n="pvi_1304.009"/> uns bei dieser Seite nicht auf, denn wir schreiben hier keine Geschichte der Poesie. <lb n="pvi_1304.010"/> Ebendaher befassen wir uns auch nicht mit den neueren Versuchen, Heldengedichte <lb n="pvi_1304.011"/> auf geschichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopstock's und <lb n="pvi_1304.012"/> Schiller's Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung <lb n="pvi_1304.013"/> kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. s. w., nicht mit den neuesten <lb n="pvi_1304.014"/> kürzeren Dichtungen, die abermals diese Form wiederzubeleben versuchten. <lb n="pvi_1304.015"/> Günstiger steht es mit Wieland's Oberon; er will kein Epos sein, sondern <lb n="pvi_1304.016"/> ein entwickeltes Mährchen im Geist Ariosto's, und schließt doch einen schönen <lb n="pvi_1304.017"/> sittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch <lb n="pvi_1304.018"/> für solchen größern Zusammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat, <lb n="pvi_1304.019"/> konnte er der Nation kein bleibendes Jnteresse abgewinnen.</hi> </p> <lb n="pvi_1304.020"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der modernen <lb n="pvi_1304.021"/> Literatur an; dabei ist natürlich nur allgemein der Eintritt dieser <lb n="pvi_1304.022"/> Kunstform in ihre wahre Geltung in's Auge gefaßt; wenn wir historisch <lb n="pvi_1304.023"/> verführen, müßten wir das Verhältniß derselben zu den Rittergedichten <lb n="pvi_1304.024"/> nachweisen: den positiven Ursprung aus denselben in der prosaischen Auflösung <lb n="pvi_1304.025"/> ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironischen Auflösung <lb n="pvi_1304.026"/> ihres Jnhalts durch Cervantes. Dieß ist nicht unsere Aufgabe, wir <lb n="pvi_1304.027"/> berühren aber jenen Ursprung nachher im innern Zusammenhang, besprechen <lb n="pvi_1304.028"/> die letztere Erscheinung da, wo der Unterschied des Ernsten und Komischen <lb n="pvi_1304.029"/> einzuführen ist, und beschränken uns hier auf das Allgemeine und Prinzipielle. <lb n="pvi_1304.030"/> Durch die Darstellung der Weltalter der Phantasie ist aber bereits <lb n="pvi_1304.031"/> Alles so vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweisung bedarf. Die Grundlage <lb n="pvi_1304.032"/> des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte <lb n="pvi_1304.033"/> Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt. <lb n="pvi_1304.034"/> Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieser Anschauung hat die Menschheit auch <lb n="pvi_1304.035"/> die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung <lb n="pvi_1304.036"/> der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Jndividualität, die Amtsnormen, <lb n="pvi_1304.037"/> denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit <lb n="pvi_1304.038"/> zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer <lb n="pvi_1304.039"/> Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im <lb n="pvi_1304.040"/> Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen <lb n="pvi_1304.041"/> Zug zur Mechanisirung der technischen Producte, des Schmucks u. s. w., die Raffinirung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1304/0166]
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welche Handlung, Fülle, Bild darboten, besser benützt und ausgebildet, so pvi_1304.002
wäre nur ein sich widersprechendes Ganzes entstanden. Milton's und Klopstock's pvi_1304.003
Epen sind und bleiben im historischen Zusammenhange der Literatur pvi_1304.004
höchst merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche pvi_1304.005
Empfindungsleben in erhabener Gestalt auszusprechen, und der neue Sinn pvi_1304.006
der Objectivität, der Zeichnung (dieser freilich bei Milton kräftiger, als bei pvi_1304.007
Klopstock), der in der beschreibenden Poesie vorher auf falschem Wege begriffen pvi_1304.008
war, in der Nachbildung Homer's sich Luft machte, aber wir halten pvi_1304.009
uns bei dieser Seite nicht auf, denn wir schreiben hier keine Geschichte der Poesie. pvi_1304.010
Ebendaher befassen wir uns auch nicht mit den neueren Versuchen, Heldengedichte pvi_1304.011
auf geschichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopstock's und pvi_1304.012
Schiller's Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung pvi_1304.013
kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. s. w., nicht mit den neuesten pvi_1304.014
kürzeren Dichtungen, die abermals diese Form wiederzubeleben versuchten. pvi_1304.015
Günstiger steht es mit Wieland's Oberon; er will kein Epos sein, sondern pvi_1304.016
ein entwickeltes Mährchen im Geist Ariosto's, und schließt doch einen schönen pvi_1304.017
sittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch pvi_1304.018
für solchen größern Zusammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat, pvi_1304.019
konnte er der Nation kein bleibendes Jnteresse abgewinnen.
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2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der modernen pvi_1304.021
Literatur an; dabei ist natürlich nur allgemein der Eintritt dieser pvi_1304.022
Kunstform in ihre wahre Geltung in's Auge gefaßt; wenn wir historisch pvi_1304.023
verführen, müßten wir das Verhältniß derselben zu den Rittergedichten pvi_1304.024
nachweisen: den positiven Ursprung aus denselben in der prosaischen Auflösung pvi_1304.025
ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironischen Auflösung pvi_1304.026
ihres Jnhalts durch Cervantes. Dieß ist nicht unsere Aufgabe, wir pvi_1304.027
berühren aber jenen Ursprung nachher im innern Zusammenhang, besprechen pvi_1304.028
die letztere Erscheinung da, wo der Unterschied des Ernsten und Komischen pvi_1304.029
einzuführen ist, und beschränken uns hier auf das Allgemeine und Prinzipielle. pvi_1304.030
Durch die Darstellung der Weltalter der Phantasie ist aber bereits pvi_1304.031
Alles so vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweisung bedarf. Die Grundlage pvi_1304.032
des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte pvi_1304.033
Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt. pvi_1304.034
Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieser Anschauung hat die Menschheit auch pvi_1304.035
die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung pvi_1304.036
der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Jndividualität, die Amtsnormen, pvi_1304.037
denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit pvi_1304.038
zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer pvi_1304.039
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Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen pvi_1304.041
Zug zur Mechanisirung der technischen Producte, des Schmucks u. s. w., die Raffinirung
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