Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1305.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0167" n="1305"/><lb n="pvi_1305.001"/> der Genüsse. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Bestimmung <lb n="pvi_1305.002"/> das Wesen des Romans, wenn er (Aesth. Th. 3, S. 395) sagt, er erringe der <lb n="pvi_1305.003"/> Poesie auf diesem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann <lb n="pvi_1305.004"/> dieß auf verschiedenen Wegen geschehen. Der erste ist der, daß die Handlung <lb n="pvi_1305.005"/> in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Prosa noch nicht oder nur wenig <lb n="pvi_1305.006"/> Meisterinn der Zustände war; allein dieß ist nur scheinbar die einfachste <lb n="pvi_1305.007"/> Auskunft, denn das Wissen um die unerbittliche Natur der Realität ist <lb n="pvi_1305.008"/> jedenfalls im Dichter und theilt sich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze <lb n="pvi_1305.009"/> Dicht-Art einmal auf dieß Wissen gestellt ist, sucht sie ihrem Wesen gemäß <lb n="pvi_1305.010"/> der Poetische gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menschen <lb n="pvi_1305.011"/> mit der Härte der Bedingungen des Daseins, und Zustände, die noch so <lb n="pvi_1305.012"/> flüssig sind, daß sie einer schönen Regung des Lebens keine Hindernisse <lb n="pvi_1305.013"/> entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenso des Salzes, wie <lb n="pvi_1305.014"/> die plastische Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein <lb n="pvi_1305.015"/> zweites Mittel ist die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen <lb n="pvi_1305.016"/> Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u. s. w.), sei es <lb n="pvi_1305.017"/> dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen nach (Adel, herumziehende <lb n="pvi_1305.018"/> Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß ist eine sehr natürliche Richtung <lb n="pvi_1305.019"/> des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den <lb n="pvi_1305.020"/> beiden genannten begreiflich im innigsten Zusammenhang stehender Weg ist <lb n="pvi_1305.021"/> die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches <lb n="pvi_1305.022"/> durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegengewicht <lb n="pvi_1305.023"/> hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Jdealität aus <lb n="pvi_1305.024"/> tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen, wie Göthe in den <lb n="pvi_1305.025"/> Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen seines W. Meister <lb n="pvi_1305.026"/> hervorsprühen; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat <lb n="pvi_1305.027"/> für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein besseres, als jene absurde <lb n="pvi_1305.028"/> Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meister. <lb n="pvi_1305.029"/> Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Romantik <lb n="pvi_1305.030"/> rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber besteht einfach in <lb n="pvi_1305.031"/> der Erfindung auffallender, überraschender Begebenheiten. Hier ist es nun <lb n="pvi_1305.032"/> allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der <hi rendition="#g">Zufall</hi> als Rächer <lb n="pvi_1305.033"/> des lebendigen Menschen an der Prosa der Zustände eine besonders starke <lb n="pvi_1305.034"/> Rolle spielt, allein von dieser Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den <lb n="pvi_1305.035"/> Anfängen des Romans zusammenhängt. Er ist, wie oben berührt, aus <lb n="pvi_1305.036"/> den Ritterbüchern entstanden, die aus dem romantischen Epos hervorgegangen <lb n="pvi_1305.037"/> waren, aus einem phantastischen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jungfrauen, <lb n="pvi_1305.038"/> Riesen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm <lb n="pvi_1305.039"/> Errettungen, Siege, Thaten überschwenglicher Tapferkeit ein Kinderspiel <lb n="pvi_1305.040"/> waren. Das eigentliche Wunder, das absolut Unmögliche des romantischen <lb n="pvi_1305.041"/> Glaubens, verschwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1305/0167]
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der Genüsse. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Bestimmung pvi_1305.002
das Wesen des Romans, wenn er (Aesth. Th. 3, S. 395) sagt, er erringe der pvi_1305.003
Poesie auf diesem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann pvi_1305.004
dieß auf verschiedenen Wegen geschehen. Der erste ist der, daß die Handlung pvi_1305.005
in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Prosa noch nicht oder nur wenig pvi_1305.006
Meisterinn der Zustände war; allein dieß ist nur scheinbar die einfachste pvi_1305.007
Auskunft, denn das Wissen um die unerbittliche Natur der Realität ist pvi_1305.008
jedenfalls im Dichter und theilt sich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze pvi_1305.009
Dicht-Art einmal auf dieß Wissen gestellt ist, sucht sie ihrem Wesen gemäß pvi_1305.010
der Poetische gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menschen pvi_1305.011
mit der Härte der Bedingungen des Daseins, und Zustände, die noch so pvi_1305.012
flüssig sind, daß sie einer schönen Regung des Lebens keine Hindernisse pvi_1305.013
entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenso des Salzes, wie pvi_1305.014
die plastische Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein pvi_1305.015
zweites Mittel ist die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen pvi_1305.016
Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u. s. w.), sei es pvi_1305.017
dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen nach (Adel, herumziehende pvi_1305.018
Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß ist eine sehr natürliche Richtung pvi_1305.019
des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den pvi_1305.020
beiden genannten begreiflich im innigsten Zusammenhang stehender Weg ist pvi_1305.021
die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches pvi_1305.022
durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegengewicht pvi_1305.023
hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Jdealität aus pvi_1305.024
tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen, wie Göthe in den pvi_1305.025
Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen seines W. Meister pvi_1305.026
hervorsprühen; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat pvi_1305.027
für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein besseres, als jene absurde pvi_1305.028
Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meister. pvi_1305.029
Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Romantik pvi_1305.030
rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber besteht einfach in pvi_1305.031
der Erfindung auffallender, überraschender Begebenheiten. Hier ist es nun pvi_1305.032
allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer pvi_1305.033
des lebendigen Menschen an der Prosa der Zustände eine besonders starke pvi_1305.034
Rolle spielt, allein von dieser Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den pvi_1305.035
Anfängen des Romans zusammenhängt. Er ist, wie oben berührt, aus pvi_1305.036
den Ritterbüchern entstanden, die aus dem romantischen Epos hervorgegangen pvi_1305.037
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waren. Das eigentliche Wunder, das absolut Unmögliche des romantischen pvi_1305.041
Glaubens, verschwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit
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