Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1321.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0183" n="1321"/><lb n="pvi_1321.001"/> Erd- und Heu-Geruch erhalten bleiben. Dieß ist das Schwere der Aufgabe, <lb n="pvi_1321.002"/> die B. Auerbach, obwohl er von falschen Tönen und fühlbaren Spuren des <lb n="pvi_1321.003"/> allzu modern Bewußten keineswegs frei ist, Epoche machend gelöst hat. <lb n="pvi_1321.004"/> Die Dorfgeschichten haben ihren unbedingten Werth, aber die ganze Form <lb n="pvi_1321.005"/> darf nicht überschätzt werden und hat sich sehr davor zu hüten, daß sie sich <lb n="pvi_1321.006"/> über den Beifall des lorgnettirenden Auges der modernen Gesellschaft täusche. <lb n="pvi_1321.007"/> – Wir haben hiemit der entgegengesetzten Richtung der Zeit nach vorgegriffen; <lb n="pvi_1321.008"/> dieser Realismus ist im engsten Sinne modern. Die classische Richtung der <lb n="pvi_1321.009"/> großen Zeit der neueren deutschen Poesie schlug jenen andern Weg ein. Voß <lb n="pvi_1321.010"/> gieng voran, Göthe überholte ihn weit und schenkte der Poesie sein Meisterwerk, <lb n="pvi_1321.011"/> das bis jetzt einzig dasteht und als <hi rendition="#aq">unicum</hi> reiner Typus einer <lb n="pvi_1321.012"/> Gattung ist: einer Jdylle, die durch den Geist der Behandlung sich zur Würde <lb n="pvi_1321.013"/> des Epos erhebt. Wir haben hier einen der reinsten Fälle der Kreuzung <lb n="pvi_1321.014"/> der Style, die uns durch unsere ganze Kunstlehre begleitet, tief entsprechend <lb n="pvi_1321.015"/> jener classischen Jdealität, welche in der Malerei Leop. Robert in das Sittenbild, <lb n="pvi_1321.016"/> Rottman in die Landschaft eingeführt hat. Die Hauptpersonen sind <lb n="pvi_1321.017"/> nicht Hirten, Bauern, aber auch nicht, wie bei Voß, Menschen, welche der <lb n="pvi_1321.018"/> Sphäre der Bildung angehören, die vom Volke trennt, und nur durch das <lb n="pvi_1321.019"/> Amt auf das Land versetzt sind (wiewohl wir diesem Stoffe, dem deutschen <lb n="pvi_1321.020"/> Pfarrhause, seine Poesie nicht absprechen), es sind Bewohner eines Städtchens, <lb n="pvi_1321.021"/> deren Geist Gewerb und Verkehr gelichtet hat, ohne den nothwendigen und <lb n="pvi_1321.022"/> vertrauten Umgang mit der Natur zu lockern. Ein höherer Ton ist schon <lb n="pvi_1321.023"/> dadurch gewonnen; das große Weltgeschick aber, wie es als Hintergrund <lb n="pvi_1321.024"/> aufsteigt, mit der einfachen Liebesgeschichte im Vordergrunde sich verflicht <lb n="pvi_1321.025"/> und ernste, würdige, sittliche Erwägungen, nationale Gesinnungen erweckt, <lb n="pvi_1321.026"/> gibt der ganzen Stimmung und Composition die epische Höhe, welcher in <lb n="pvi_1321.027"/> der Behandlung und Durchführung das reinste classische Formgefühl entgegenkommt, <lb n="pvi_1321.028"/> das durch die einfachsten Mittel die schlichten Gestalten in das <lb n="pvi_1321.029"/> Licht patriarchalischer Volksführer, homerischer Männer und Frauen rückt. <lb n="pvi_1321.030"/> Deutsches Herz, deutscher Sinn für die kleinen Züge des engeren Lebens, <lb n="pvi_1321.031"/> Naturtreue und Charakteristik, malerischer Wurf und Hauch hat sich hier in <lb n="pvi_1321.032"/> einer Verschmelzung, die so nicht wiederkehren wird, mit griechischer Großheit, <lb n="pvi_1321.033"/> Reinheit und Plastik vereinigt und das Eine Werk war es werth, <lb n="pvi_1321.034"/> daß Wilh. v. Humboldt in seiner classischen Analyse die Gesetze der epischen <lb n="pvi_1321.035"/> Dichtkunst an ihm entwickelte.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1321/0183]
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Erd- und Heu-Geruch erhalten bleiben. Dieß ist das Schwere der Aufgabe, pvi_1321.002
die B. Auerbach, obwohl er von falschen Tönen und fühlbaren Spuren des pvi_1321.003
allzu modern Bewußten keineswegs frei ist, Epoche machend gelöst hat. pvi_1321.004
Die Dorfgeschichten haben ihren unbedingten Werth, aber die ganze Form pvi_1321.005
darf nicht überschätzt werden und hat sich sehr davor zu hüten, daß sie sich pvi_1321.006
über den Beifall des lorgnettirenden Auges der modernen Gesellschaft täusche. pvi_1321.007
– Wir haben hiemit der entgegengesetzten Richtung der Zeit nach vorgegriffen; pvi_1321.008
dieser Realismus ist im engsten Sinne modern. Die classische Richtung der pvi_1321.009
großen Zeit der neueren deutschen Poesie schlug jenen andern Weg ein. Voß pvi_1321.010
gieng voran, Göthe überholte ihn weit und schenkte der Poesie sein Meisterwerk, pvi_1321.011
das bis jetzt einzig dasteht und als unicum reiner Typus einer pvi_1321.012
Gattung ist: einer Jdylle, die durch den Geist der Behandlung sich zur Würde pvi_1321.013
des Epos erhebt. Wir haben hier einen der reinsten Fälle der Kreuzung pvi_1321.014
der Style, die uns durch unsere ganze Kunstlehre begleitet, tief entsprechend pvi_1321.015
jener classischen Jdealität, welche in der Malerei Leop. Robert in das Sittenbild, pvi_1321.016
Rottman in die Landschaft eingeführt hat. Die Hauptpersonen sind pvi_1321.017
nicht Hirten, Bauern, aber auch nicht, wie bei Voß, Menschen, welche der pvi_1321.018
Sphäre der Bildung angehören, die vom Volke trennt, und nur durch das pvi_1321.019
Amt auf das Land versetzt sind (wiewohl wir diesem Stoffe, dem deutschen pvi_1321.020
Pfarrhause, seine Poesie nicht absprechen), es sind Bewohner eines Städtchens, pvi_1321.021
deren Geist Gewerb und Verkehr gelichtet hat, ohne den nothwendigen und pvi_1321.022
vertrauten Umgang mit der Natur zu lockern. Ein höherer Ton ist schon pvi_1321.023
dadurch gewonnen; das große Weltgeschick aber, wie es als Hintergrund pvi_1321.024
aufsteigt, mit der einfachen Liebesgeschichte im Vordergrunde sich verflicht pvi_1321.025
und ernste, würdige, sittliche Erwägungen, nationale Gesinnungen erweckt, pvi_1321.026
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Licht patriarchalischer Volksführer, homerischer Männer und Frauen rückt. pvi_1321.030
Deutsches Herz, deutscher Sinn für die kleinen Züge des engeren Lebens, pvi_1321.031
Naturtreue und Charakteristik, malerischer Wurf und Hauch hat sich hier in pvi_1321.032
einer Verschmelzung, die so nicht wiederkehren wird, mit griechischer Großheit, pvi_1321.033
Reinheit und Plastik vereinigt und das Eine Werk war es werth, pvi_1321.034
daß Wilh. v. Humboldt in seiner classischen Analyse die Gesetze der epischen pvi_1321.035
Dichtkunst an ihm entwickelte.
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