Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1325.001 1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Gefühls pvi_1325.005 pvi_1325.001 1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Gefühls pvi_1325.005 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0187" n="1325"/><lb n="pvi_1325.001"/> Atmosphäre überträgt. Durch diese sämmtlichen Mittel bewegt sich die lyrische<note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1325.002"/> Poesie in den verschiedenen Richtungen der Zeit, wesentlich aber ist sie im <lb n="pvi_1325.003"/> Gegensatze gegen die epische Vergangenheit auf die <hi rendition="#g">Gegenwart</hi> gestellt.</p> <lb n="pvi_1325.004"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Gefühls <lb n="pvi_1325.005"/> kennen gelernt, die als solche kein Object geben kann. Darum ist ihre <lb n="pvi_1325.006"/> Form das reine, verglichen mit aller andern Kunst gestaltlose Bewegungsleben <lb n="pvi_1325.007"/> des Tons. Die Poesie hat sich über diese Sphäre erhoben und spricht <lb n="pvi_1325.008"/> mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im <lb n="pvi_1325.009"/> Lichte des Bewußtseins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wiederkehrt, <lb n="pvi_1325.010"/> auf dem das ganze System der Künste in der Musik steht, so muß, <lb n="pvi_1325.011"/> da dieß eine Versetzung auf denselben von einem andern Standpunct ist, <lb n="pvi_1325.012"/> zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterschied sich geltend machen; <lb n="pvi_1325.013"/> daher schon in §. 846, Anm. 2. gesagt ist, daß gegen das Stylgesetz, welches <lb n="pvi_1325.014"/> Verirrung der Dichtkunst in das Gebiet der Tonkunst abwehrt, auch die <lb n="pvi_1325.015"/> lyrische Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß <lb n="pvi_1325.016"/> so bestimmen: das Gefühl ist die reine Mitte des Geisteslebens, woraus <lb n="pvi_1325.017"/> die bewußten Thätigkeiten stets auftauchen und worein sie stets zurücksinken; <lb n="pvi_1325.018"/> diese stehen daher beständig an seiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die <lb n="pvi_1325.019"/> Musik, als Kunst des reinen Gefühls, öffnet ihnen diesen Eintritt nicht; <lb n="pvi_1325.020"/> die lyrische Poesie öffnet ihn, umhüllt aber alle bestimmte Gestaltung, die <lb n="pvi_1325.021"/> hiemit eingelassen ist, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein <lb n="pvi_1325.022"/> stets sich vollziehender, stets sich zurücknehmender Uebertritt auf andern <lb n="pvi_1325.023"/> Boden, ein Schweben zwischen dem reinen, unbewußten Sichselbstvernehmen <lb n="pvi_1325.024"/> und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken. <lb n="pvi_1325.025"/> Das Gemüth geht nur aus sich heraus, um in sich zu bleiben; es kann <lb n="pvi_1325.026"/> seinen Zustand nur aussprechen <hi rendition="#g">an</hi> Anderem, durch Hereinziehen von Solchem, <lb n="pvi_1325.027"/> was nicht mehr bloße Empfindung ist, aber es wird diesen Stoff auch blos <lb n="pvi_1325.028"/> hereinziehen, um ihm seine Farbe zu geben. Der lyrische Dichter sagt, was <lb n="pvi_1325.029"/> sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, <lb n="pvi_1325.030"/> daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften <lb n="pvi_1325.031"/> unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches <lb n="pvi_1325.032"/> zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls. <lb n="pvi_1325.033"/> Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur <lb n="pvi_1325.034"/> sich, sein Herz, wie sie auf es wirken, aus ihm hervorsteigen und wie kein <lb n="pvi_1325.035"/> Ausdruck ihm genügt. – Wir haben gesehen, wie in der Poesie die bildende <lb n="pvi_1325.036"/> Kunst sich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epischen Dichtart im engeren <lb n="pvi_1325.037"/> Sinne zur Wahrheit, aber der Satz ist ganz allgemein ausgesprochen und <lb n="pvi_1325.038"/> muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit besonderem Nachdruck <lb n="pvi_1325.039"/> das Andere gilt, daß in der Poesie die Musik wiederkehrt. So sind es <lb n="pvi_1325.040"/> denn zunächst epische Elemente, d. h. Bilder der Anschauung, wodurch der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1325/0187]
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Atmosphäre überträgt. Durch diese sämmtlichen Mittel bewegt sich die lyrische pvi_1325.002
Poesie in den verschiedenen Richtungen der Zeit, wesentlich aber ist sie im pvi_1325.003
Gegensatze gegen die epische Vergangenheit auf die Gegenwart gestellt.
2. pvi_1325.004
1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Gefühls pvi_1325.005
kennen gelernt, die als solche kein Object geben kann. Darum ist ihre pvi_1325.006
Form das reine, verglichen mit aller andern Kunst gestaltlose Bewegungsleben pvi_1325.007
des Tons. Die Poesie hat sich über diese Sphäre erhoben und spricht pvi_1325.008
mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im pvi_1325.009
Lichte des Bewußtseins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wiederkehrt, pvi_1325.010
auf dem das ganze System der Künste in der Musik steht, so muß, pvi_1325.011
da dieß eine Versetzung auf denselben von einem andern Standpunct ist, pvi_1325.012
zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterschied sich geltend machen; pvi_1325.013
daher schon in §. 846, Anm. 2. gesagt ist, daß gegen das Stylgesetz, welches pvi_1325.014
Verirrung der Dichtkunst in das Gebiet der Tonkunst abwehrt, auch die pvi_1325.015
lyrische Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß pvi_1325.016
so bestimmen: das Gefühl ist die reine Mitte des Geisteslebens, woraus pvi_1325.017
die bewußten Thätigkeiten stets auftauchen und worein sie stets zurücksinken; pvi_1325.018
diese stehen daher beständig an seiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die pvi_1325.019
Musik, als Kunst des reinen Gefühls, öffnet ihnen diesen Eintritt nicht; pvi_1325.020
die lyrische Poesie öffnet ihn, umhüllt aber alle bestimmte Gestaltung, die pvi_1325.021
hiemit eingelassen ist, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein pvi_1325.022
stets sich vollziehender, stets sich zurücknehmender Uebertritt auf andern pvi_1325.023
Boden, ein Schweben zwischen dem reinen, unbewußten Sichselbstvernehmen pvi_1325.024
und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken. pvi_1325.025
Das Gemüth geht nur aus sich heraus, um in sich zu bleiben; es kann pvi_1325.026
seinen Zustand nur aussprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem, pvi_1325.027
was nicht mehr bloße Empfindung ist, aber es wird diesen Stoff auch blos pvi_1325.028
hereinziehen, um ihm seine Farbe zu geben. Der lyrische Dichter sagt, was pvi_1325.029
sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, pvi_1325.030
daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften pvi_1325.031
unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches pvi_1325.032
zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls. pvi_1325.033
Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur pvi_1325.034
sich, sein Herz, wie sie auf es wirken, aus ihm hervorsteigen und wie kein pvi_1325.035
Ausdruck ihm genügt. – Wir haben gesehen, wie in der Poesie die bildende pvi_1325.036
Kunst sich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epischen Dichtart im engeren pvi_1325.037
Sinne zur Wahrheit, aber der Satz ist ganz allgemein ausgesprochen und pvi_1325.038
muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit besonderem Nachdruck pvi_1325.039
das Andere gilt, daß in der Poesie die Musik wiederkehrt. So sind es pvi_1325.040
denn zunächst epische Elemente, d. h. Bilder der Anschauung, wodurch der
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