Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1324.001 §. 885. pvi_1324.0341. Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct pvi_1324.035
pvi_1324.001 §. 885. pvi_1324.0341. Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct pvi_1324.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0186" n="1324"/><lb n="pvi_1324.001"/> und dieser Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der sich als lyrische <lb n="pvi_1324.002"/> Poesie darstellt, nothwendig mit Verlust an jener Art von Klarheit und <lb n="pvi_1324.003"/> Freiheit verbunden sein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch <lb n="pvi_1324.004"/> unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieses Dunkels ist dennoch <lb n="pvi_1324.005"/> weit über die Naivetät des Epos hinaus: sie ist das Unbewußte des <lb n="pvi_1324.006"/> tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anstaunens. Sie setzt <lb n="pvi_1324.007"/> daher auch geschichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt <lb n="pvi_1324.008"/> nur in einen Satz zusammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Eintheilung <lb n="pvi_1324.009"/> schon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt ist. Wir haben dort auch <lb n="pvi_1324.010"/> auf W. Wackernagel's psychologische und historische Begründung verwiesen <lb n="pvi_1324.011"/> und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu. <lb n="pvi_1324.012"/> Jn Griechenland giengen schwere Erschütterungen voraus, Ringen der <lb n="pvi_1324.013"/> Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrschern, ehe der <lb n="pvi_1324.014"/> Einzelne sich zu der Concentration und Vielseitigkeit der inneren Erregung <lb n="pvi_1324.015"/> zusammenfaßte, woraus die lyrische Poesie sich entwickelte; im Mittelalter <lb n="pvi_1324.016"/> mußte erst durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der christlichen <lb n="pvi_1324.017"/> Religion mit dem Bruchstücke heidnischer Objectivität, das den Charakter <lb n="pvi_1324.018"/> dieser Weltperiode wesentlich mitbestimmt, zusammengegohren, deutsche, romanische <lb n="pvi_1324.019"/> und orientalische Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinandergerüttelt <lb n="pvi_1324.020"/> sein, ehe die Knospe sich erschloß und die erfüllte Jnnerlichkeit ihren <lb n="pvi_1324.021"/> Duft im Liede verbreitete. Doch hat erst die moderne Poesie eine wahre <lb n="pvi_1324.022"/> und volle Lyrik schaffen können, denn es ist nur der gebildete Geist, der die <lb n="pvi_1324.023"/> reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervorlocken, <lb n="pvi_1324.024"/> was im Grunde eines Menschenherzens schlummert. Aber selbst ein <lb n="pvi_1324.025"/> sichtbares Aufblühen der Volkspoesie setzt eine Periode voraus, wo das Volk <lb n="pvi_1324.026"/> einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zustände sich entwachsen fühlt, <lb n="pvi_1324.027"/> wie im sechszehnten Jahrhundert. – Anders verhält es sich mit dem einzelnen <lb n="pvi_1324.028"/> Dichter: die Muse, welche ganz ein Kind der Stimmung ist, wird <lb n="pvi_1324.029"/> der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold sein; wenige Lyriker <lb n="pvi_1324.030"/> haben lange fortgesungen, und auch diese mit den Jahren etweder seltener, <lb n="pvi_1324.031"/> oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetisch, sondern contemplativ, <lb n="pvi_1324.032"/> didaktisch.</hi> </p> <lb n="pvi_1324.033"/> <p> <hi rendition="#c">§. 885.</hi> </p> <lb n="pvi_1324.034"/> <note place="left">1.</note> <p> Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct <lb n="pvi_1324.035"/> der empfindenden stellt, so liegt darin zugleich der Unterschied von der Musik: <lb n="pvi_1324.036"/> das Gefühl kann in der Dichtkunst nur durch Anknüpfung an das Bewußtsein <lb n="pvi_1324.037"/> als Organ und Jnhalt einer Kunstform auftreten; das Subject spricht zwar <lb n="pvi_1324.038"/> nur sich, seine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils <lb n="pvi_1324.039"/> Elemente der epischen Anschauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche <lb n="pvi_1324.040"/> Gedanken (gnomische Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungs- </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1324/0186]
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und dieser Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der sich als lyrische pvi_1324.002
Poesie darstellt, nothwendig mit Verlust an jener Art von Klarheit und pvi_1324.003
Freiheit verbunden sein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch pvi_1324.004
unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieses Dunkels ist dennoch pvi_1324.005
weit über die Naivetät des Epos hinaus: sie ist das Unbewußte des pvi_1324.006
tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anstaunens. Sie setzt pvi_1324.007
daher auch geschichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt pvi_1324.008
nur in einen Satz zusammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Eintheilung pvi_1324.009
schon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt ist. Wir haben dort auch pvi_1324.010
auf W. Wackernagel's psychologische und historische Begründung verwiesen pvi_1324.011
und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu. pvi_1324.012
Jn Griechenland giengen schwere Erschütterungen voraus, Ringen der pvi_1324.013
Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrschern, ehe der pvi_1324.014
Einzelne sich zu der Concentration und Vielseitigkeit der inneren Erregung pvi_1324.015
zusammenfaßte, woraus die lyrische Poesie sich entwickelte; im Mittelalter pvi_1324.016
mußte erst durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der christlichen pvi_1324.017
Religion mit dem Bruchstücke heidnischer Objectivität, das den Charakter pvi_1324.018
dieser Weltperiode wesentlich mitbestimmt, zusammengegohren, deutsche, romanische pvi_1324.019
und orientalische Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinandergerüttelt pvi_1324.020
sein, ehe die Knospe sich erschloß und die erfüllte Jnnerlichkeit ihren pvi_1324.021
Duft im Liede verbreitete. Doch hat erst die moderne Poesie eine wahre pvi_1324.022
und volle Lyrik schaffen können, denn es ist nur der gebildete Geist, der die pvi_1324.023
reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervorlocken, pvi_1324.024
was im Grunde eines Menschenherzens schlummert. Aber selbst ein pvi_1324.025
sichtbares Aufblühen der Volkspoesie setzt eine Periode voraus, wo das Volk pvi_1324.026
einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zustände sich entwachsen fühlt, pvi_1324.027
wie im sechszehnten Jahrhundert. – Anders verhält es sich mit dem einzelnen pvi_1324.028
Dichter: die Muse, welche ganz ein Kind der Stimmung ist, wird pvi_1324.029
der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold sein; wenige Lyriker pvi_1324.030
haben lange fortgesungen, und auch diese mit den Jahren etweder seltener, pvi_1324.031
oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetisch, sondern contemplativ, pvi_1324.032
didaktisch.
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§. 885.
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Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct pvi_1324.035
der empfindenden stellt, so liegt darin zugleich der Unterschied von der Musik: pvi_1324.036
das Gefühl kann in der Dichtkunst nur durch Anknüpfung an das Bewußtsein pvi_1324.037
als Organ und Jnhalt einer Kunstform auftreten; das Subject spricht zwar pvi_1324.038
nur sich, seine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils pvi_1324.039
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