Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1327.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0189" n="1327"/><lb n="pvi_1327.001"/> hinstellt. Die letztere Form ist zwar subjectiv, aber im Subjectiven noch zu <lb n="pvi_1327.002"/> den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung <lb n="pvi_1327.003"/> versenkte Selbst auch unmittelbar von sich ausgehend ohne diese Gegenüberstellung <lb n="pvi_1327.004"/> seinen Stimmungszustand auszusprechen suchen. Da derselbe jedoch <lb n="pvi_1327.005"/> schließlich unsagbar ist, so wird es auch für diese rein subjective Einkehr in <lb n="pvi_1327.006"/> sich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leibliche <lb n="pvi_1327.007"/> Reflex des Seelenzustands dienen müssen, um ein andeutendes Bild <lb n="pvi_1327.008"/> von diesem zu geben. Man betrachte Mignon's Lied: „Nur wer die Sehnsucht <lb n="pvi_1327.009"/> kennt“: das kranke Herz sucht zu sagen, was es leidet; da beruft es <lb n="pvi_1327.010"/> sich zuerst auf Andere, die dasselbe leiden, die werden es wissen, sagen läßt <lb n="pvi_1327.011"/> es sich nicht; jetzt folgt ein Anschauungsbild der zweiten Gattung der erst <lb n="pvi_1327.012"/> von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude seh' <lb n="pvi_1327.013"/> ich an's Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf <lb n="pvi_1327.014"/> sächlich die Ursache des Leidens angegeben: „ach, der mich liebt und kennt, <lb n="pvi_1327.015"/> ist in der Weite“; nun aber soll endlich der innere Zustand direct ausgesprochen <lb n="pvi_1327.016"/> werden, da hat das unsagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt <lb n="pvi_1327.017"/> ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnsucht im physischen <lb n="pvi_1327.018"/> Leben hervorbringt: „es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide“ und <lb n="pvi_1327.019"/> hier, wo derjenige, der das Lyrische nicht versteht, meinen wird, das Eigentliche, <lb n="pvi_1327.020"/> die wirkliche Entwicklung des Seelenzustands werde nun folgen, – <lb n="pvi_1327.021"/> verhaucht das Lied, es kann nur zum ersten Satze der Berufung auf Andere <lb n="pvi_1327.022"/> zurückkehren und schließen. So findet auch jenes erste Lied Gretchen's kein <lb n="pvi_1327.023"/> directes Wort für ihren Zustand, als: „mein Herz ist schwer, mein armer <lb n="pvi_1327.024"/> Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt“; und das zweite <lb n="pvi_1327.025"/> greift ebenfalls in die verstörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur, <lb n="pvi_1327.026"/> um sogleich hinzuzusetzen, daß auch dieß eigentlich unaussprechlich sei: „wer <lb n="pvi_1327.027"/> fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz <lb n="pvi_1327.028"/> hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein“, <lb n="pvi_1327.029"/> dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber, <lb n="pvi_1327.030"/> daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Busen <lb n="pvi_1327.031"/> deutend: „wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Busen hier“; sie <lb n="pvi_1327.032"/> greift wieder zum Objectiven: „ich wein, ich wein', ich weine“, und noch <lb n="pvi_1327.033"/> einmal zum physiologischen Bilde: „das Herz zerbricht in mir“, dann aber, <lb n="pvi_1327.034"/> da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epischen Elementen der Vergegenwärtigung <lb n="pvi_1327.035"/> ihrer Leidensgestalt. Clärchen's Sehnsucht langet und banget <lb n="pvi_1327.036"/> in schwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht <lb n="pvi_1327.037"/> weiter. Das Objective, in jenem engeren und diesem allgemeineren Sinne, <lb n="pvi_1327.038"/> genügt also nicht und eben das ist die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen, <lb n="pvi_1327.039"/> dieß Wortlose im Worte ausspricht, aber es ist doch der einzige Körper, <lb n="pvi_1327.040"/> an welchem der elektrische Funke des Gefühls hinläuft und aufsprüht. So <lb n="pvi_1327.041"/> gewiß ist im Lyrischen ein episches Element, daß es sogar Formen gibt, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1327/0189]
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hinstellt. Die letztere Form ist zwar subjectiv, aber im Subjectiven noch zu pvi_1327.002
den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung pvi_1327.003
versenkte Selbst auch unmittelbar von sich ausgehend ohne diese Gegenüberstellung pvi_1327.004
seinen Stimmungszustand auszusprechen suchen. Da derselbe jedoch pvi_1327.005
schließlich unsagbar ist, so wird es auch für diese rein subjective Einkehr in pvi_1327.006
sich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leibliche pvi_1327.007
Reflex des Seelenzustands dienen müssen, um ein andeutendes Bild pvi_1327.008
von diesem zu geben. Man betrachte Mignon's Lied: „Nur wer die Sehnsucht pvi_1327.009
kennt“: das kranke Herz sucht zu sagen, was es leidet; da beruft es pvi_1327.010
sich zuerst auf Andere, die dasselbe leiden, die werden es wissen, sagen läßt pvi_1327.011
es sich nicht; jetzt folgt ein Anschauungsbild der zweiten Gattung der erst pvi_1327.012
von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude seh' pvi_1327.013
ich an's Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf pvi_1327.014
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ist in der Weite“; nun aber soll endlich der innere Zustand direct ausgesprochen pvi_1327.016
werden, da hat das unsagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt pvi_1327.017
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Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt“; und das zweite pvi_1327.025
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dieß Wortlose im Worte ausspricht, aber es ist doch der einzige Körper, pvi_1327.040
an welchem der elektrische Funke des Gefühls hinläuft und aufsprüht. So pvi_1327.041
gewiß ist im Lyrischen ein episches Element, daß es sogar Formen gibt,
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