Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1330.001 §. 886. pvi_1330.026Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment pvi_1330.027 Die lyrische Poesie hat über der Jnnigkeit, die ihr gewonnen ist, das pvi_1330.040
pvi_1330.001 §. 886. pvi_1330.026Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment pvi_1330.027 Die lyrische Poesie hat über der Jnnigkeit, die ihr gewonnen ist, das pvi_1330.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0192" n="1330"/><lb n="pvi_1330.001"/> Es ist schon in §. 862 gesagt, daß die lyrische Poesie auf die Gegenwart, <lb n="pvi_1330.002"/> wie die epische auf die Vergangenheit gestellt ist. Es ist dieß nur ein <lb n="pvi_1330.003"/> anderer Ausdruck für den Satz, daß das Bestimmende dieser Dicht-Art die <lb n="pvi_1330.004"/> lebendige, alles Object in sich verarbeitende Subjectivität ist. Das Lyrische <lb n="pvi_1330.005"/> ist ganz auf <hi rendition="#g">diesen</hi> Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein lebendiger <lb n="pvi_1330.006"/> Mensch die Welt so und nicht anders. Allein der Moment flieht im <lb n="pvi_1330.007"/> Werden und weicht dem folgenden. So ist die Gegenwart nur der stets <lb n="pvi_1330.008"/> relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft <lb n="pvi_1330.009"/> durchmißt. Von ganz besonderer Stärke ist die Richtung der Vergangenheit. <lb n="pvi_1330.010"/> Wo das Gefühl selbständig waltet, ist die Wehmuth des Rückblicks bestimmender <lb n="pvi_1330.011"/> Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn <lb n="pvi_1330.012"/> als ein dunkles Schwingungsleben ist das Gefühl wesentlich ein Vernehmen <lb n="pvi_1330.013"/> der Zeit, eigentlich die Zeit selbst als subjectives Vernehmen des ewigen <lb n="pvi_1330.014"/> Wechsels; dieser Ton, den wir schon im Epischen fanden, dieser Zustand, als <lb n="pvi_1330.015"/> säße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauschen, <lb n="pvi_1330.016"/> wird im Lyrischen herrschend und wesentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist <lb n="pvi_1330.017"/> aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die <lb n="pvi_1330.018"/> Empfindung schwillt in zarterer oder gewaltsamerer Weise nach ihr hin, das <lb n="pvi_1330.019"/> Selbst stellt sich in sie hinaus und schaut dort sein Bild. Den Zug der Wehmuth <lb n="pvi_1330.020"/> hebt auch dieß nicht auf, es zieht sich vielmehr etwas hindurch, ein Klang, <lb n="pvi_1330.021"/> der zu sagen scheint, daß auch dieß Zukünftige einst vergangen sein wird. <lb n="pvi_1330.022"/> Wie diesen verschiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anschauung, der <lb n="pvi_1330.023"/> Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf <lb n="pvi_1330.024"/> keiner Auseinandersetzung.</hi> </p> <lb n="pvi_1330.025"/> <p> <hi rendition="#c">§. 886.</hi> </p> <lb n="pvi_1330.026"/> <p> Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment <lb n="pvi_1330.027"/> gewiesen ist, so dem Umfange nach, in welchem sie das Objective ergreift, auf <lb n="pvi_1330.028"/> die <hi rendition="#g">Vereinzelung:</hi> es ist wesentlich <hi rendition="#g">dieses</hi> Subject, das in <hi rendition="#g">dieser</hi> <lb n="pvi_1330.029"/> Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher <lb n="pvi_1330.030"/> ist empirisches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgesetzt, daher liegt <lb n="pvi_1330.031"/> auch das Pathologische (vergl. §. 393, 2.) besonders nahe und muß an dieser <lb n="pvi_1330.032"/> Stelle ausdrücklich wieder abgewiesen werden. Das freie und universale Gemüth, <lb n="pvi_1330.033"/> das in Kampf und Schmerz sich mit der Welt versöhnt hat, legt nun zwar <lb n="pvi_1330.034"/> in jedes Einzelne sein ganzes Jnneres und das Gefühl des Universums, aber <lb n="pvi_1330.035"/> unentwickelt, und nur die Gesammtheit der lyrischen Aeußerungen gibt das <lb n="pvi_1330.036"/> Bild einer Persönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die bestimmte <lb n="pvi_1330.037"/> Art des Zusammenfühlens der Jndividualität und der Welt verleiht dem Gedichte <lb n="pvi_1330.038"/> seinen <hi rendition="#g">Duft.</hi></p> <lb n="pvi_1330.039"/> <p> <hi rendition="#et"> Die lyrische Poesie hat über der Jnnigkeit, die ihr gewonnen ist, das <lb n="pvi_1330.040"/> Object zwar nicht so ganz verloren, wie die Musik; wir haben ihre epischen, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1330/0192]
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Es ist schon in §. 862 gesagt, daß die lyrische Poesie auf die Gegenwart, pvi_1330.002
wie die epische auf die Vergangenheit gestellt ist. Es ist dieß nur ein pvi_1330.003
anderer Ausdruck für den Satz, daß das Bestimmende dieser Dicht-Art die pvi_1330.004
lebendige, alles Object in sich verarbeitende Subjectivität ist. Das Lyrische pvi_1330.005
ist ganz auf diesen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein lebendiger pvi_1330.006
Mensch die Welt so und nicht anders. Allein der Moment flieht im pvi_1330.007
Werden und weicht dem folgenden. So ist die Gegenwart nur der stets pvi_1330.008
relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft pvi_1330.009
durchmißt. Von ganz besonderer Stärke ist die Richtung der Vergangenheit. pvi_1330.010
Wo das Gefühl selbständig waltet, ist die Wehmuth des Rückblicks bestimmender pvi_1330.011
Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn pvi_1330.012
als ein dunkles Schwingungsleben ist das Gefühl wesentlich ein Vernehmen pvi_1330.013
der Zeit, eigentlich die Zeit selbst als subjectives Vernehmen des ewigen pvi_1330.014
Wechsels; dieser Ton, den wir schon im Epischen fanden, dieser Zustand, als pvi_1330.015
säße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauschen, pvi_1330.016
wird im Lyrischen herrschend und wesentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist pvi_1330.017
aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die pvi_1330.018
Empfindung schwillt in zarterer oder gewaltsamerer Weise nach ihr hin, das pvi_1330.019
Selbst stellt sich in sie hinaus und schaut dort sein Bild. Den Zug der Wehmuth pvi_1330.020
hebt auch dieß nicht auf, es zieht sich vielmehr etwas hindurch, ein Klang, pvi_1330.021
der zu sagen scheint, daß auch dieß Zukünftige einst vergangen sein wird. pvi_1330.022
Wie diesen verschiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anschauung, der pvi_1330.023
Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf pvi_1330.024
keiner Auseinandersetzung.
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§. 886.
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Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment pvi_1330.027
gewiesen ist, so dem Umfange nach, in welchem sie das Objective ergreift, auf pvi_1330.028
die Vereinzelung: es ist wesentlich dieses Subject, das in dieser pvi_1330.029
Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher pvi_1330.030
ist empirisches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgesetzt, daher liegt pvi_1330.031
auch das Pathologische (vergl. §. 393, 2.) besonders nahe und muß an dieser pvi_1330.032
Stelle ausdrücklich wieder abgewiesen werden. Das freie und universale Gemüth, pvi_1330.033
das in Kampf und Schmerz sich mit der Welt versöhnt hat, legt nun zwar pvi_1330.034
in jedes Einzelne sein ganzes Jnneres und das Gefühl des Universums, aber pvi_1330.035
unentwickelt, und nur die Gesammtheit der lyrischen Aeußerungen gibt das pvi_1330.036
Bild einer Persönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die bestimmte pvi_1330.037
Art des Zusammenfühlens der Jndividualität und der Welt verleiht dem Gedichte pvi_1330.038
seinen Duft.
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Die lyrische Poesie hat über der Jnnigkeit, die ihr gewonnen ist, das pvi_1330.040
Object zwar nicht so ganz verloren, wie die Musik; wir haben ihre epischen,
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