Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1331.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0193" n="1331"/><lb n="pvi_1331.001"/> bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente <lb n="pvi_1331.002"/> kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. <lb n="pvi_1331.003"/> Jst ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in <lb n="pvi_1331.004"/> Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die <lb n="pvi_1331.005"/> <hi rendition="#g">Punctualität;</hi> sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: <lb n="pvi_1331.006"/> in <hi rendition="#g">diesem</hi> Moment erfaßt die Erfahrung <hi rendition="#g">dieses</hi> Subject auf <hi rendition="#g">diese</hi> Weise. <lb n="pvi_1331.007"/> Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von <lb n="pvi_1331.008"/> der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in <lb n="pvi_1331.009"/> den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er <lb n="pvi_1331.010"/> ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und <lb n="pvi_1331.011"/> worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg, <lb n="pvi_1331.012"/> da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung <lb n="pvi_1331.013"/> ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt <lb n="pvi_1331.014"/> es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im <lb n="pvi_1331.015"/> Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen, <lb n="pvi_1331.016"/> wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des <lb n="pvi_1331.017"/> Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom, <lb n="pvi_1331.018"/> über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die <lb n="pvi_1331.019"/> damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen <lb n="pvi_1331.020"/> entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind <lb n="pvi_1331.021"/> zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen befeuchten; <lb n="pvi_1331.022"/> das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn <lb n="pvi_1331.023"/> die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die <lb n="pvi_1331.024"/> Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's <lb n="pvi_1331.025"/> Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation <lb n="pvi_1331.026"/> und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet, <lb n="pvi_1331.027"/> geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre. <lb n="pvi_1331.028"/> Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche <lb n="pvi_1331.029"/> Wort, daß ein wahres Gedicht <hi rendition="#g">Gelegenheitsgedicht</hi> im höheren Sinne <lb n="pvi_1331.030"/> des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre <lb n="pvi_1331.031"/> dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen <lb n="pvi_1331.032"/> Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht <lb n="pvi_1331.033"/> des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist <lb n="pvi_1331.034"/> der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. <lb n="pvi_1331.035"/> Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der <lb n="pvi_1331.036"/> Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Berechnung <lb n="pvi_1331.037"/> liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und <lb n="pvi_1331.038"/> erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object <lb n="pvi_1331.039"/> sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl <lb n="pvi_1331.040"/> in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über <lb n="pvi_1331.041"/> diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1331/0193]
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bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente pvi_1331.002
kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. pvi_1331.003
Jst ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in pvi_1331.004
Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die pvi_1331.005
Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: pvi_1331.006
in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise. pvi_1331.007
Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von pvi_1331.008
der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in pvi_1331.009
den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er pvi_1331.010
ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und pvi_1331.011
worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg, pvi_1331.012
da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung pvi_1331.013
ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt pvi_1331.014
es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im pvi_1331.015
Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen, pvi_1331.016
wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des pvi_1331.017
Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom, pvi_1331.018
über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die pvi_1331.019
damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen pvi_1331.020
entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind pvi_1331.021
zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen befeuchten; pvi_1331.022
das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn pvi_1331.023
die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die pvi_1331.024
Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's pvi_1331.025
Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation pvi_1331.026
und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet, pvi_1331.027
geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre. pvi_1331.028
Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche pvi_1331.029
Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne pvi_1331.030
des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre pvi_1331.031
dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen pvi_1331.032
Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht pvi_1331.033
des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist pvi_1331.034
der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. pvi_1331.035
Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der pvi_1331.036
Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Berechnung pvi_1331.037
liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und pvi_1331.038
erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object pvi_1331.039
sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl pvi_1331.040
in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über pvi_1331.041
diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften
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