Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1332.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0194" n="1332"/><lb n="pvi_1332.001"/> Schilderung des deutschen Volksgesangs (Gesch. d. Nat.=Lit. d. Deutsch. <lb n="pvi_1332.002"/> Th. 2, <hi rendition="#aq">VII</hi>, 1). – Vermöge dieses Charakters liegt nun das Pathologische <lb n="pvi_1332.003"/> im lyrischen Gebiete näher, als in andern; wir haben es längst besprochen <lb n="pvi_1332.004"/> und abgewiesen und brauchen daher hier nur zu sagen, daß es wegen der <lb n="pvi_1332.005"/> stärkeren Versuchung besonders ausdrücklich zu verwehren sei. Die jambische <lb n="pvi_1332.006"/> Poesie der Griechen, so manches von Zorn und Rache glühende Lied der <lb n="pvi_1332.007"/> Araber, der französischen Dichter des Mittelalters, vor Allem aber die neuere <lb n="pvi_1332.008"/> Zeit mit ihrer so ungleich vertieften Spannung der Gegensätze im Subjecte <lb n="pvi_1332.009"/> liefert unzählige Proben; was der unmittelbare Natur-Ausbruch der Leidenschaft <lb n="pvi_1332.010"/> sei, zeigt namentlich Bürger in Stellen, wie: „denn wie soll, wie <lb n="pvi_1332.011"/> kann ich's zähmen, dieses hochempörte Herz? wie den letzten Trost ihm <lb n="pvi_1332.012"/> nehmen, auszuschreien seinen Schmerz? Schreien, aus muß ich ihn schreien“ <lb n="pvi_1332.013"/> u. s. w. Die Gefahr, daß „die Hand, die vom Fieber zittert, das Fieber <lb n="pvi_1332.014"/> zu schildern unternehme“, hat noch einen bestimmteren Grund, als den, daß <lb n="pvi_1332.015"/> die Forderung des in gegebener Situation lebensfrisch Gefühlten so leicht <lb n="pvi_1332.016"/> mißverstanden wird: er liegt in der falschen Deutung der Wahrheit, daß <lb n="pvi_1332.017"/> das Land des Gefühls ein Land der Schmerzen ist. Erleben, erfahren heißt <lb n="pvi_1332.018"/> durch Leiden gehen; die Welt in sich verarbeiten, heißt durch das Meer <lb n="pvi_1332.019"/> der Qualen schwimmen. Das Object tritt nicht kampflos in das Subject <lb n="pvi_1332.020"/> ein, um aus ihm verklärt im Glanz und Dufte der Empfindung hervorzusteigen; <lb n="pvi_1332.021"/> die naive epische Freude an den Dingen muß erst bitter vergällt, <lb n="pvi_1332.022"/> das Jdeal, womit der jugendlich geschwellte Geist an die Welt geht, mit <lb n="pvi_1332.023"/> der rauhen Unerbittlichkeit hart zusammengestoßen sein, ehe die Blume der <lb n="pvi_1332.024"/> tieferen, gefüllteren Lyrik aus den Tiefen des Gemüthes sproßt. Die Lyrik <lb n="pvi_1332.025"/> hat diesen Lebensprozeß in seiner innersten Spannung auszusprechen und so <lb n="pvi_1332.026"/> unzählige Lieder der unbefangenen Heiterkeit sie geschaffen hat und schafft, <lb n="pvi_1332.027"/> so geben doch diese nur zusammengefaßt mit der weit größeren Summe der <lb n="pvi_1332.028"/> schmerzvollen das ganze und wahre Bild dieser Dicht-Art. Aber eben: der <lb n="pvi_1332.029"/> Kranke kann die Krankheit nicht darstellen; nur das Gemüth, das sich zur <lb n="pvi_1332.030"/> Seligkeit der idealen Freiheit durchgekämpft hat oder doch die tiefe Anlage <lb n="pvi_1332.031"/> dazu, die Kraft der Gesundheit in sich trägt, um die gefährlichsten Krankheiten <lb n="pvi_1332.032"/> in glücklichen Krisen zu überstehen, wird die einzelne Erschütterung, <lb n="pvi_1332.033"/> wie sie so eben noch in ihm nachzittert, verklärt, zur Allgemeinheit der Jdee <lb n="pvi_1332.034"/> gereinigt wiedergeben. Göthe's unverwüstliche Elastizität steht auch in diesem <lb n="pvi_1332.035"/> Zusammenhang als reines Muster da. Jn seiner Hand wird Alles leicht <lb n="pvi_1332.036"/> und frei, verliert die Erdenschwere, schwebt im Aether der reinen Stimmung <lb n="pvi_1332.037"/> und Form. An dem Morgen, da er Wetzlar verläßt, die Flamme einer <lb n="pvi_1332.038"/> verzehrenden Leidenschaft, in welche die Zeitstimmung der Sentimentalität <lb n="pvi_1332.039"/> noch ihr Oel gegossen, noch heiß im Herzen, dichtet er „Pilgers Morgenlied“; <lb n="pvi_1332.040"/> der Nord des Lebens „zischt ihm tausendschlangenzüngig um's Herz“, <lb n="pvi_1332.041"/> aber die Liebe des einzelnen Mannes zum einzelnen Weibe wird ihm zur </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1332/0194]
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Schilderung des deutschen Volksgesangs (Gesch. d. Nat.=Lit. d. Deutsch. pvi_1332.002
Th. 2, VII, 1). – Vermöge dieses Charakters liegt nun das Pathologische pvi_1332.003
im lyrischen Gebiete näher, als in andern; wir haben es längst besprochen pvi_1332.004
und abgewiesen und brauchen daher hier nur zu sagen, daß es wegen der pvi_1332.005
stärkeren Versuchung besonders ausdrücklich zu verwehren sei. Die jambische pvi_1332.006
Poesie der Griechen, so manches von Zorn und Rache glühende Lied der pvi_1332.007
Araber, der französischen Dichter des Mittelalters, vor Allem aber die neuere pvi_1332.008
Zeit mit ihrer so ungleich vertieften Spannung der Gegensätze im Subjecte pvi_1332.009
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sei, zeigt namentlich Bürger in Stellen, wie: „denn wie soll, wie pvi_1332.011
kann ich's zähmen, dieses hochempörte Herz? wie den letzten Trost ihm pvi_1332.012
nehmen, auszuschreien seinen Schmerz? Schreien, aus muß ich ihn schreien“ pvi_1332.013
u. s. w. Die Gefahr, daß „die Hand, die vom Fieber zittert, das Fieber pvi_1332.014
zu schildern unternehme“, hat noch einen bestimmteren Grund, als den, daß pvi_1332.015
die Forderung des in gegebener Situation lebensfrisch Gefühlten so leicht pvi_1332.016
mißverstanden wird: er liegt in der falschen Deutung der Wahrheit, daß pvi_1332.017
das Land des Gefühls ein Land der Schmerzen ist. Erleben, erfahren heißt pvi_1332.018
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der Qualen schwimmen. Das Object tritt nicht kampflos in das Subject pvi_1332.020
ein, um aus ihm verklärt im Glanz und Dufte der Empfindung hervorzusteigen; pvi_1332.021
die naive epische Freude an den Dingen muß erst bitter vergällt, pvi_1332.022
das Jdeal, womit der jugendlich geschwellte Geist an die Welt geht, mit pvi_1332.023
der rauhen Unerbittlichkeit hart zusammengestoßen sein, ehe die Blume der pvi_1332.024
tieferen, gefüllteren Lyrik aus den Tiefen des Gemüthes sproßt. Die Lyrik pvi_1332.025
hat diesen Lebensprozeß in seiner innersten Spannung auszusprechen und so pvi_1332.026
unzählige Lieder der unbefangenen Heiterkeit sie geschaffen hat und schafft, pvi_1332.027
so geben doch diese nur zusammengefaßt mit der weit größeren Summe der pvi_1332.028
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Kranke kann die Krankheit nicht darstellen; nur das Gemüth, das sich zur pvi_1332.030
Seligkeit der idealen Freiheit durchgekämpft hat oder doch die tiefe Anlage pvi_1332.031
dazu, die Kraft der Gesundheit in sich trägt, um die gefährlichsten Krankheiten pvi_1332.032
in glücklichen Krisen zu überstehen, wird die einzelne Erschütterung, pvi_1332.033
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gereinigt wiedergeben. Göthe's unverwüstliche Elastizität steht auch in diesem pvi_1332.035
Zusammenhang als reines Muster da. Jn seiner Hand wird Alles leicht pvi_1332.036
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verzehrenden Leidenschaft, in welche die Zeitstimmung der Sentimentalität pvi_1332.039
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der Nord des Lebens „zischt ihm tausendschlangenzüngig um's Herz“, pvi_1332.041
aber die Liebe des einzelnen Mannes zum einzelnen Weibe wird ihm zur
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