Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1339.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0201" n="1339"/><lb n="pvi_1339.001"/> zu Strophen, und eine Aufeinanderfolge von Strophen wie dort von einfachen <lb n="pvi_1339.002"/> Reihen. Von jeher haben die Strophen dazu geneigt, den Weg des <lb n="pvi_1339.003"/> Gefühls dadurch bestimmter darzustellen, daß sie durch eine nach Länge oder <lb n="pvi_1339.004"/> Kürze überhaupt oder auch metrisch ungleiche Zeile ihre zusammengestellten <lb n="pvi_1339.005"/> Reihen abschlossen und damit das Ausathmen des Gefühls schlechthin <lb n="pvi_1339.006"/> oder das Ausathmen mit einem kurzen neuen Aufschwunge darstellten. Es <lb n="pvi_1339.007"/> war zuerst der Pentameter, der im elegischen Versmaaße zum Hexameter <lb n="pvi_1339.008"/> trat als „melodisches Herabfallen der flüssigen Säule, die im Hexameter <lb n="pvi_1339.009"/> gestiegen ist,“ es war dann der Epodos in verschiedenen Formen. Allein <lb n="pvi_1339.010"/> der Doppelschlag von Steigen und Sinken ist nur die allgemeinere Seite <lb n="pvi_1339.011"/> des Gefühlslebens; die Stimmung hat ihren innern Verlauf und wir haben <lb n="pvi_1339.012"/> in §. 887 auch von ihm gesagt, daß sich derselbe naturgemäß durch drei Momente <lb n="pvi_1339.013"/> bewegen wird. Als sich die Lyrik in der dorischen Chorpoesie immer <lb n="pvi_1339.014"/> kunstreicher ausbildete, stellte sich denn auch die Dreigliederung in den drei <lb n="pvi_1339.015"/> Sätzen: Strophe, Antistrophe und Epode dar. Die Minnepoesie des Mittelalters <lb n="pvi_1339.016"/> hat dieselbe Kunstform in den zwei Stollen, die der Aufgesang <lb n="pvi_1339.017"/> hießen, und dem Abgesang ausgebildet; unter den neueren Bildungen sind <lb n="pvi_1339.018"/> es namentlich mehrere italienische, die in der Verschlingung ihrer melodischen <lb n="pvi_1339.019"/> Bänder den Abschluß durch einen zwei vorangehenden Sätzen ungleichen <lb n="pvi_1339.020"/> Satz lieben, so die achtzeilige Stanze und das Sonett. Die antike Lyrik <lb n="pvi_1339.021"/> ist nun zu äußerst kunstreichen Bildungen in der einzelnen Strophe fortgegangen <lb n="pvi_1339.022"/> und hat Gruppen von Strophen mit andern zu Einer großen <lb n="pvi_1339.023"/> verbunden: eine Höhe, die jedoch bedenklich die Grenze des richtigen Maaßes <lb n="pvi_1339.024"/> berührt. Es ist nämlich der Consequenz, zu welcher der erste Theil unseres <lb n="pvi_1339.025"/> §. führt, ihre Schranke zu setzen; denn bis auf einen gewissen Grad getrieben <lb n="pvi_1339.026"/> ist das Kunstreiche der rhythmisch=metrischen Form nicht mehr Ausdruck, <lb n="pvi_1339.027"/> sondern Abzug, Ableitungskanal der Jnnigkeit der Empfindung: die <lb n="pvi_1339.028"/> Form wächst nicht mehr mit dem Jnhalt, sondern fordert Jnteresse für sich <lb n="pvi_1339.029"/> und stiehlt ihm seine Wärme. Die Alten, bei denen überhaupt die äußere <lb n="pvi_1339.030"/> Kunstform mehr als eine selbständige Welt der Schönheit bestand (vergl. <lb n="pvi_1339.031"/> §. 859), konnten hierin ungleich weiter gehen, als die Neueren, ihr Formgefühl <lb n="pvi_1339.032"/> war als solches so warm, daß sie, wenn sie auch die Form mit <lb n="pvi_1339.033"/> Verlust an Jnteresse für den Jnhalt fühlten, doch innig fühlten. Wir <lb n="pvi_1339.034"/> werden zudem sehen, mit welchen andern Seiten des unterscheidenden Charakters <lb n="pvi_1339.035"/> ihrer lyrischen Poesie dieß zusammenhängt. Dagegen schlug die <lb n="pvi_1339.036"/> ähnlich kunstreiche Ausbildung der lyrischen Formen im Minnegesang auf <lb n="pvi_1339.037"/> der Höhe, zu der sie sich steigerte, in unzweifelhafte Erkältung des Gefühls, <lb n="pvi_1339.038"/> in conventionelles Spiel und stabilen Cultus bestimmter Empfindungen um <lb n="pvi_1339.039"/> und es bedurfte der ganzen Schlichtheit des später aufblühenden Volksliedes, <lb n="pvi_1339.040"/> um zur Wahrheit zurückzukehren. Die Künstlichkeit der romanischen und <lb n="pvi_1339.041"/> muhamedanisch orientalischen Formen wird uns nöthigen, dieser Lyrik ihre </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1339/0201]
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zu Strophen, und eine Aufeinanderfolge von Strophen wie dort von einfachen pvi_1339.002
Reihen. Von jeher haben die Strophen dazu geneigt, den Weg des pvi_1339.003
Gefühls dadurch bestimmter darzustellen, daß sie durch eine nach Länge oder pvi_1339.004
Kürze überhaupt oder auch metrisch ungleiche Zeile ihre zusammengestellten pvi_1339.005
Reihen abschlossen und damit das Ausathmen des Gefühls schlechthin pvi_1339.006
oder das Ausathmen mit einem kurzen neuen Aufschwunge darstellten. Es pvi_1339.007
war zuerst der Pentameter, der im elegischen Versmaaße zum Hexameter pvi_1339.008
trat als „melodisches Herabfallen der flüssigen Säule, die im Hexameter pvi_1339.009
gestiegen ist,“ es war dann der Epodos in verschiedenen Formen. Allein pvi_1339.010
der Doppelschlag von Steigen und Sinken ist nur die allgemeinere Seite pvi_1339.011
des Gefühlslebens; die Stimmung hat ihren innern Verlauf und wir haben pvi_1339.012
in §. 887 auch von ihm gesagt, daß sich derselbe naturgemäß durch drei Momente pvi_1339.013
bewegen wird. Als sich die Lyrik in der dorischen Chorpoesie immer pvi_1339.014
kunstreicher ausbildete, stellte sich denn auch die Dreigliederung in den drei pvi_1339.015
Sätzen: Strophe, Antistrophe und Epode dar. Die Minnepoesie des Mittelalters pvi_1339.016
hat dieselbe Kunstform in den zwei Stollen, die der Aufgesang pvi_1339.017
hießen, und dem Abgesang ausgebildet; unter den neueren Bildungen sind pvi_1339.018
es namentlich mehrere italienische, die in der Verschlingung ihrer melodischen pvi_1339.019
Bänder den Abschluß durch einen zwei vorangehenden Sätzen ungleichen pvi_1339.020
Satz lieben, so die achtzeilige Stanze und das Sonett. Die antike Lyrik pvi_1339.021
ist nun zu äußerst kunstreichen Bildungen in der einzelnen Strophe fortgegangen pvi_1339.022
und hat Gruppen von Strophen mit andern zu Einer großen pvi_1339.023
verbunden: eine Höhe, die jedoch bedenklich die Grenze des richtigen Maaßes pvi_1339.024
berührt. Es ist nämlich der Consequenz, zu welcher der erste Theil unseres pvi_1339.025
§. führt, ihre Schranke zu setzen; denn bis auf einen gewissen Grad getrieben pvi_1339.026
ist das Kunstreiche der rhythmisch=metrischen Form nicht mehr Ausdruck, pvi_1339.027
sondern Abzug, Ableitungskanal der Jnnigkeit der Empfindung: die pvi_1339.028
Form wächst nicht mehr mit dem Jnhalt, sondern fordert Jnteresse für sich pvi_1339.029
und stiehlt ihm seine Wärme. Die Alten, bei denen überhaupt die äußere pvi_1339.030
Kunstform mehr als eine selbständige Welt der Schönheit bestand (vergl. pvi_1339.031
§. 859), konnten hierin ungleich weiter gehen, als die Neueren, ihr Formgefühl pvi_1339.032
war als solches so warm, daß sie, wenn sie auch die Form mit pvi_1339.033
Verlust an Jnteresse für den Jnhalt fühlten, doch innig fühlten. Wir pvi_1339.034
werden zudem sehen, mit welchen andern Seiten des unterscheidenden Charakters pvi_1339.035
ihrer lyrischen Poesie dieß zusammenhängt. Dagegen schlug die pvi_1339.036
ähnlich kunstreiche Ausbildung der lyrischen Formen im Minnegesang auf pvi_1339.037
der Höhe, zu der sie sich steigerte, in unzweifelhafte Erkältung des Gefühls, pvi_1339.038
in conventionelles Spiel und stabilen Cultus bestimmter Empfindungen um pvi_1339.039
und es bedurfte der ganzen Schlichtheit des später aufblühenden Volksliedes, pvi_1339.040
um zur Wahrheit zurückzukehren. Die Künstlichkeit der romanischen und pvi_1339.041
muhamedanisch orientalischen Formen wird uns nöthigen, dieser Lyrik ihre
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