Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1340.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0202" n="1340"/><lb n="pvi_1340.001"/> Stelle jenseits der Mitte wahrer Jnnigkeit anzuweisen. Was namentlich <lb n="pvi_1340.002"/> die größeren Strophensysteme betrifft, so tritt an ihre Stelle in der neueren <lb n="pvi_1340.003"/> Poesie natürlicher das Cyclische, der Kranz von Gedichten, den der gemeinschaftliche <lb n="pvi_1340.004"/> Jnhalt einer umfassenden Gefühls-Situation oder Lebensepoche <lb n="pvi_1340.005"/> an geistigem Bande zusammenhält. – Das einfach Wesentliche bleibt immer, <lb n="pvi_1340.006"/> daß der Stimmungston im Rhythmus reinen Ausdruck finde. Wir zeigen <lb n="pvi_1340.007"/> die rechten Wege durch einen Blick auf Göthe'sche Balladen. „Der Fischer“ <lb n="pvi_1340.008"/> ist durchaus anthitetisch gebaut; jede Strophe besteht aus zwei kleineren <lb n="pvi_1340.009"/> vierzeiligen. Das Maaß ist jambisch, also anwachsend, andringend, aber <lb n="pvi_1340.010"/> je auf eine längere Zeile folgt eine kürzere: ein Zweischlag, der auf die <lb n="pvi_1340.011"/> Anschwellung ein Gefühl des Zurücksinkens folgen läßt; die meisten der <lb n="pvi_1340.012"/> Langzeilen aber zerfallen durch eine Diärese in zwei Dipodien, z. B: „das <lb n="pvi_1340.013"/> Wasser rauscht, das Wasser schwoll;“ „halb zog sie ihn, halb sank er hin.“ <lb n="pvi_1340.014"/> So geht durch das Ganze das Gefühl des anschlagenden und zurücksinkenden <lb n="pvi_1340.015"/> Wellenspiels, recht das Gefühl des Wassers und des süß, schwindlicht Verlockenden, <lb n="pvi_1340.016"/> was es hat. „Der Gott und die Bajadere“ besteht aus Strophen, <lb n="pvi_1340.017"/> die je wieder aus zwei vierzeiligen gebunden sind, aber auf jede ganze Strophe <lb n="pvi_1340.018"/> folgt eine dreizeilige, die sich zu jener wie der Abgesang zum Aufgesang <lb n="pvi_1340.019"/> mit seinen Stollen verhält, übrigens durch den Schlußreim, welcher mit <lb n="pvi_1340.020"/> dem der größeren Strophen gebunden ist, sich an diese anflicht. Jene sind <lb n="pvi_1340.021"/> trochäisch und drücken durch dieses Maaß bald das Hohe der Herabkunft <lb n="pvi_1340.022"/> des Gottes, bald das sicher Continuirliche des Fortschrittes von den ersten <lb n="pvi_1340.023"/> Anlockungen und Erweisungen der Liebe bis zum tragischen Ende aus. <lb n="pvi_1340.024"/> Die kürzeren Abschlußstrophen dagegen bestehen aus längeren daktylischen <lb n="pvi_1340.025"/> Zeilen mit Vorschlag und trochäischem Schluß; sie schießen hervor, als habe <lb n="pvi_1340.026"/> das Gefühl in den Hauptstrophen nicht genug Raum gehabt, sich zu dehnen; <lb n="pvi_1340.027"/> in der ersten bezeichnet dieser Rhythmus nur das schnell Wechselnde in <lb n="pvi_1340.028"/> Mahadöh's Erdreisen, in der zweiten schlägt er zum lieblichen Tanz und <lb n="pvi_1340.029"/> Zymbel-Klang als beschleunigter Puls, in der dritten drückt er die dienstwillige <lb n="pvi_1340.030"/> Geschäftigkeit des Mädchens und die Freude des Gottes aus, in <lb n="pvi_1340.031"/> der vierten klingt er ängstlich anwachsend im Gefühle der steigenden Schärfe <lb n="pvi_1340.032"/> der Prüfungen, in der fünften athmet er befriedigte Lust, in der sechsten <lb n="pvi_1340.033"/> bricht er stoßweise durch wie die Verzweiflung, womit die Bajadere unter <lb n="pvi_1340.034"/> die Begleiter des Leichenzugs stürzt, in der siebenten scheint er unter dem <lb n="pvi_1340.035"/> tragischen Jnhalte des Priestergesangs in dunkler Bangigkeit zu zittern, in <lb n="pvi_1340.036"/> der achten ist er ganz Klage und in der neunten schwebt er mit dem verklärten <lb n="pvi_1340.037"/> Paare beschwingt zum Himmel empor. Dagegen betrachte man die <lb n="pvi_1340.038"/> Braut von Korinth; ihre Atmosphäre ist schwüle Bangigkeit, es liegt wie <lb n="pvi_1340.039"/> ein bleierner Druck auf ihr; zwei kürzere Zeilen vor dem Schlusse der <lb n="pvi_1340.040"/> Strophen scheinen unter diesem Drucke nicht weiter zu können, den wiederholten <lb n="pvi_1340.041"/> Ansatz zu hemmen, den Athem einzuhalten, der dann, wie wenn der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1340/0202]
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Stelle jenseits der Mitte wahrer Jnnigkeit anzuweisen. Was namentlich pvi_1340.002
die größeren Strophensysteme betrifft, so tritt an ihre Stelle in der neueren pvi_1340.003
Poesie natürlicher das Cyclische, der Kranz von Gedichten, den der gemeinschaftliche pvi_1340.004
Jnhalt einer umfassenden Gefühls-Situation oder Lebensepoche pvi_1340.005
an geistigem Bande zusammenhält. – Das einfach Wesentliche bleibt immer, pvi_1340.006
daß der Stimmungston im Rhythmus reinen Ausdruck finde. Wir zeigen pvi_1340.007
die rechten Wege durch einen Blick auf Göthe'sche Balladen. „Der Fischer“ pvi_1340.008
ist durchaus anthitetisch gebaut; jede Strophe besteht aus zwei kleineren pvi_1340.009
vierzeiligen. Das Maaß ist jambisch, also anwachsend, andringend, aber pvi_1340.010
je auf eine längere Zeile folgt eine kürzere: ein Zweischlag, der auf die pvi_1340.011
Anschwellung ein Gefühl des Zurücksinkens folgen läßt; die meisten der pvi_1340.012
Langzeilen aber zerfallen durch eine Diärese in zwei Dipodien, z. B: „das pvi_1340.013
Wasser rauscht, das Wasser schwoll;“ „halb zog sie ihn, halb sank er hin.“ pvi_1340.014
So geht durch das Ganze das Gefühl des anschlagenden und zurücksinkenden pvi_1340.015
Wellenspiels, recht das Gefühl des Wassers und des süß, schwindlicht Verlockenden, pvi_1340.016
was es hat. „Der Gott und die Bajadere“ besteht aus Strophen, pvi_1340.017
die je wieder aus zwei vierzeiligen gebunden sind, aber auf jede ganze Strophe pvi_1340.018
folgt eine dreizeilige, die sich zu jener wie der Abgesang zum Aufgesang pvi_1340.019
mit seinen Stollen verhält, übrigens durch den Schlußreim, welcher mit pvi_1340.020
dem der größeren Strophen gebunden ist, sich an diese anflicht. Jene sind pvi_1340.021
trochäisch und drücken durch dieses Maaß bald das Hohe der Herabkunft pvi_1340.022
des Gottes, bald das sicher Continuirliche des Fortschrittes von den ersten pvi_1340.023
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Die kürzeren Abschlußstrophen dagegen bestehen aus längeren daktylischen pvi_1340.025
Zeilen mit Vorschlag und trochäischem Schluß; sie schießen hervor, als habe pvi_1340.026
das Gefühl in den Hauptstrophen nicht genug Raum gehabt, sich zu dehnen; pvi_1340.027
in der ersten bezeichnet dieser Rhythmus nur das schnell Wechselnde in pvi_1340.028
Mahadöh's Erdreisen, in der zweiten schlägt er zum lieblichen Tanz und pvi_1340.029
Zymbel-Klang als beschleunigter Puls, in der dritten drückt er die dienstwillige pvi_1340.030
Geschäftigkeit des Mädchens und die Freude des Gottes aus, in pvi_1340.031
der vierten klingt er ängstlich anwachsend im Gefühle der steigenden Schärfe pvi_1340.032
der Prüfungen, in der fünften athmet er befriedigte Lust, in der sechsten pvi_1340.033
bricht er stoßweise durch wie die Verzweiflung, womit die Bajadere unter pvi_1340.034
die Begleiter des Leichenzugs stürzt, in der siebenten scheint er unter dem pvi_1340.035
tragischen Jnhalte des Priestergesangs in dunkler Bangigkeit zu zittern, in pvi_1340.036
der achten ist er ganz Klage und in der neunten schwebt er mit dem verklärten pvi_1340.037
Paare beschwingt zum Himmel empor. Dagegen betrachte man die pvi_1340.038
Braut von Korinth; ihre Atmosphäre ist schwüle Bangigkeit, es liegt wie pvi_1340.039
ein bleierner Druck auf ihr; zwei kürzere Zeilen vor dem Schlusse der pvi_1340.040
Strophen scheinen unter diesem Drucke nicht weiter zu können, den wiederholten pvi_1340.041
Ansatz zu hemmen, den Athem einzuhalten, der dann, wie wenn der
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