Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1352.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0214" n="1352"/><lb n="pvi_1352.001"/> an), aus diesem singt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick, <lb n="pvi_1352.002"/> die Freude heraus. Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Gebiete <lb n="pvi_1352.003"/> die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter <lb n="pvi_1352.004"/> seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied <lb n="pvi_1352.005"/> und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr <lb n="pvi_1352.006"/> Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen <lb n="pvi_1352.007"/> wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach, <lb n="pvi_1352.008"/> naiv hervorfließe, kann man an Göthe's Liedern wie an einer reinen Norm <lb n="pvi_1352.009"/> ersehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886 <lb n="pvi_1352.010"/> über die Situationsfarbe des Lyrischen gesagt wurde: man muß durchsehen, <lb n="pvi_1352.011"/> wie in einer bestimmten Lage dieser Stimmungszustand entstanden ist, in <lb n="pvi_1352.012"/> bestimmtem Augenblicke die Welt so und nicht anders im Dichtergemüthe <lb n="pvi_1352.013"/> gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter <lb n="pvi_1352.014"/> der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders <lb n="pvi_1352.015"/> Könnens, denn der Dichter ist hier erzeugender Geist und reines Naturkind, <lb n="pvi_1352.016"/> Stimmungskind, ganz in Einem. – Sehen wir nun nach dem <hi rendition="#g">Stoff=</hi> <lb n="pvi_1352.017"/> Unterschiede, so verhält sich hier das Lied nicht ausschließend wie das Hymnische. <lb n="pvi_1352.018"/> Es wird natürlich mit dem breiteren Theile seiner Basis sich auf <lb n="pvi_1352.019"/> dem Boden des heiteren Lebensgenusses festsetzen, Liebe, Wein, Tanz, gesellige <lb n="pvi_1352.020"/> Lust, Naturgenuß wird sein liebstes Thema sein, denn das menschlich Vertraute, <lb n="pvi_1352.021"/> Kampflose schlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz <lb n="pvi_1352.022"/> Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtsinn in Göthe's <lb n="pvi_1352.023"/> <hi rendition="#aq">Vanitas Vanitatum Vanitas</hi> stellt eigentlich diese reine, freie, widerstandslose <lb n="pvi_1352.024"/> Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht <lb n="pvi_1352.025"/> sich dem Liede nicht, denn es kann volle Jmmanenz im Gemüthe des Subjectes <lb n="pvi_1352.026"/> werden. Dieß gilt denn zuerst von dem absolut Erhabenen: es tritt <lb n="pvi_1352.027"/> als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht ist nun freilich <lb n="pvi_1352.028"/> auch die Stimmung der Hymne, allein wir müssen hier das Wort in <lb n="pvi_1352.029"/> dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion voraussetzt, welche die Jdee <lb n="pvi_1352.030"/> der Jmmanenz im Begriffe der göttlichen Liebe besitzt und die Bewegung <lb n="pvi_1352.031"/> der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen <lb n="pvi_1352.032"/> Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwischen dem absoluten Gegenstand <lb n="pvi_1352.033"/> als einem außerweltlich persönlichen und dem Subjecte bleibt der <lb n="pvi_1352.034"/> Vorstellung nach stehen, wird aber der That nach durch die Jnnigkeit der <lb n="pvi_1352.035"/> Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in diesem <lb n="pvi_1352.036"/> harmonischen Flusse ist jene Erschütterung des Hymnischen und Dithyrambischen, <lb n="pvi_1352.037"/> wobei immer eine herbere Entgegensetzung zu Grunde liegt, verschwunden <lb n="pvi_1352.038"/> und kann so der schlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten. <lb n="pvi_1352.039"/> Das Lied schließt denn natürlich auch menschlich erhabenen Jnhalt nicht <lb n="pvi_1352.040"/> aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und <lb n="pvi_1352.041"/> Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleisch und Blut des subjectiven </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1352/0214]
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an), aus diesem singt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick, pvi_1352.002
die Freude heraus. Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Gebiete pvi_1352.003
die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter pvi_1352.004
seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied pvi_1352.005
und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr pvi_1352.006
Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen pvi_1352.007
wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach, pvi_1352.008
naiv hervorfließe, kann man an Göthe's Liedern wie an einer reinen Norm pvi_1352.009
ersehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886 pvi_1352.010
über die Situationsfarbe des Lyrischen gesagt wurde: man muß durchsehen, pvi_1352.011
wie in einer bestimmten Lage dieser Stimmungszustand entstanden ist, in pvi_1352.012
bestimmtem Augenblicke die Welt so und nicht anders im Dichtergemüthe pvi_1352.013
gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter pvi_1352.014
der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders pvi_1352.015
Könnens, denn der Dichter ist hier erzeugender Geist und reines Naturkind, pvi_1352.016
Stimmungskind, ganz in Einem. – Sehen wir nun nach dem Stoff= pvi_1352.017
Unterschiede, so verhält sich hier das Lied nicht ausschließend wie das Hymnische. pvi_1352.018
Es wird natürlich mit dem breiteren Theile seiner Basis sich auf pvi_1352.019
dem Boden des heiteren Lebensgenusses festsetzen, Liebe, Wein, Tanz, gesellige pvi_1352.020
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Vanitas Vanitatum Vanitas stellt eigentlich diese reine, freie, widerstandslose pvi_1352.024
Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht pvi_1352.025
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werden. Dieß gilt denn zuerst von dem absolut Erhabenen: es tritt pvi_1352.027
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auch die Stimmung der Hymne, allein wir müssen hier das Wort in pvi_1352.029
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Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleisch und Blut des subjectiven
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