Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1353.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0215" n="1353"/><lb n="pvi_1353.001"/> Gefühls geworden ist. Noch weniger natürlich sind dem Liede die tiefen <lb n="pvi_1353.002"/> inneren Brüche des individuellen Lebens fremd, die Tragödie des Herzens <lb n="pvi_1353.003"/> in der ganzen Tonleiter vom wildesten Sturme der Leidenschaft bis zum <lb n="pvi_1353.004"/> hinschmelzenden Seufzer der Wehmuth. Jene dunkeln Abgründe der Seele <lb n="pvi_1353.005"/> in den Liedern Mignon's und des Harfners sind doch in die reine Farbe des <lb n="pvi_1353.006"/> Liedes getaucht. Der Kampf im Jnnern ist ein Dornenweg durch die <lb n="pvi_1353.007"/> schwersten Brechungen, Vermittlungen, allein auf seinen Stadien schwillt <lb n="pvi_1353.008"/> die dunkle Summe derselben zur einfachen Unmittelbarkeit und elementarischen <lb n="pvi_1353.009"/> Gewalt des Gefühles an, wie es im Liede durchbricht. Noch ist hervorzuheben, <lb n="pvi_1353.010"/> daß von den Stoffgebieten nun auch das landschaftliche bestimmter <lb n="pvi_1353.011"/> wieder auftritt. Es ist dieß die einfache Umkehrung des Satzes, <lb n="pvi_1353.012"/> daß das Landschaftgemälde wesentlich lyrisch ist (vergl. §. 698, 1.), und <lb n="pvi_1353.013"/> nach dem dort Ausgeführten bedarf es keines weiteren Beweises, daß das <lb n="pvi_1353.014"/> Gefühl auch ohne Vermittlung der bildenden Phantasie an die Betrachtung <lb n="pvi_1353.015"/> der Natur anschießt, wie sie uns das Gegenbild unserer Stimmungen darbietet. <lb n="pvi_1353.016"/> Ja dasselbe kann – darauf werden wir zurückkommen – ganz, <lb n="pvi_1353.017"/> ohne von sich zu reden, in einem Landschaftbild aufgehen. Mit der Ausdehnung <lb n="pvi_1353.018"/> über alle Stoffsphären ist nun aber auch die andere über die großen <lb n="pvi_1353.019"/> Grundgegensätze des Schönen so gegeben, daß neben dem Anmuthigen und <lb n="pvi_1353.020"/> Erhabenen die Welt des Komischen in freier Fülle sich öffnet. Jst ja doch <lb n="pvi_1353.021"/> das Komische die im engsten Sinn subjective unter den Formen des ästhetischen <lb n="pvi_1353.022"/> Widerstreits, ganz Wohlsein des Subjects, also ganz Stimmung. <lb n="pvi_1353.023"/> Es fragt sich nur, ob das Lyrische nicht überhaupt zu wenig Objectivität <lb n="pvi_1353.024"/> habe, um dem Lachen erst den Anhalt des komischen Vorgangs zu geben; <lb n="pvi_1353.025"/> allein es besitzt ja das Wort und ist daher in diesem Gebiete natürlich <lb n="pvi_1353.026"/> nicht so beschränkt wie die Musik. Der Vorgang muß nicht ein Ereigniß <lb n="pvi_1353.027"/> in der Außenwelt sein, er kann auf innern Widersprüchen beruhen, die der <lb n="pvi_1353.028"/> Witz aufdeckt, und dieser, wenn nur getragen vom warmen Flusse der <lb n="pvi_1353.029"/> Stimmung, hebt keineswegs den Charakter des Liedes auf. Wir werden <lb n="pvi_1353.030"/> aber bald sehen, daß das Lied sogar im Sinne der Erzählung objectiv verfahren, <lb n="pvi_1353.031"/> also auch einen äußern Vorgang komischer Art darstellen kann; <lb n="pvi_1353.032"/> vorläufig weisen wir nur auf Göthe's ächt komische Schlagwirkung in <lb n="pvi_1353.033"/> „Schneider-Courage“. – Das Gefühl ist sympathetisch; am meisten das <lb n="pvi_1353.034"/> schlichte und naive; ertönt der Hymnus in vollster Kraft als chorischer <lb n="pvi_1353.035"/> Gesang, so muß noch gewisser das Lied zur vollen Strömung vereinigter <lb n="pvi_1353.036"/> Empfindungsflüsse, zum Ausdrucke des Gemeingefühls neigen. Diese Seite <lb n="pvi_1353.037"/> tritt hier mit solcher Stärke hervor, daß sie sogar eine Unter-Eintheilung <lb n="pvi_1353.038"/> in individuelle und gesellige Lieder nahe legt, und die letzteren sprechen <lb n="pvi_1353.039"/> entweder die momentane Gesammtstimmung Solcher aus, die zu Andacht, <lb n="pvi_1353.040"/> Trauer, Genuß, oder die eingewurzelte Solcher, die bleibend in einem Stande <lb n="pvi_1353.041"/> vereinigt sind, beides natürlich in Anknüpfung an eine bestimmte Situation. </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1353/0215]
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Gefühls geworden ist. Noch weniger natürlich sind dem Liede die tiefen pvi_1353.002
inneren Brüche des individuellen Lebens fremd, die Tragödie des Herzens pvi_1353.003
in der ganzen Tonleiter vom wildesten Sturme der Leidenschaft bis zum pvi_1353.004
hinschmelzenden Seufzer der Wehmuth. Jene dunkeln Abgründe der Seele pvi_1353.005
in den Liedern Mignon's und des Harfners sind doch in die reine Farbe des pvi_1353.006
Liedes getaucht. Der Kampf im Jnnern ist ein Dornenweg durch die pvi_1353.007
schwersten Brechungen, Vermittlungen, allein auf seinen Stadien schwillt pvi_1353.008
die dunkle Summe derselben zur einfachen Unmittelbarkeit und elementarischen pvi_1353.009
Gewalt des Gefühles an, wie es im Liede durchbricht. Noch ist hervorzuheben, pvi_1353.010
daß von den Stoffgebieten nun auch das landschaftliche bestimmter pvi_1353.011
wieder auftritt. Es ist dieß die einfache Umkehrung des Satzes, pvi_1353.012
daß das Landschaftgemälde wesentlich lyrisch ist (vergl. §. 698, 1.), und pvi_1353.013
nach dem dort Ausgeführten bedarf es keines weiteren Beweises, daß das pvi_1353.014
Gefühl auch ohne Vermittlung der bildenden Phantasie an die Betrachtung pvi_1353.015
der Natur anschießt, wie sie uns das Gegenbild unserer Stimmungen darbietet. pvi_1353.016
Ja dasselbe kann – darauf werden wir zurückkommen – ganz, pvi_1353.017
ohne von sich zu reden, in einem Landschaftbild aufgehen. Mit der Ausdehnung pvi_1353.018
über alle Stoffsphären ist nun aber auch die andere über die großen pvi_1353.019
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in der Außenwelt sein, er kann auf innern Widersprüchen beruhen, die der pvi_1353.028
Witz aufdeckt, und dieser, wenn nur getragen vom warmen Flusse der pvi_1353.029
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aber bald sehen, daß das Lied sogar im Sinne der Erzählung objectiv verfahren, pvi_1353.031
also auch einen äußern Vorgang komischer Art darstellen kann; pvi_1353.032
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vereinigt sind, beides natürlich in Anknüpfung an eine bestimmte Situation.
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