Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1160.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0022" n="1160"/><lb n="pvi_1160.001"/> dargestellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und <lb n="pvi_1160.002"/> das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem <lb n="pvi_1160.003"/> und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität seines Wahrnehmens <lb n="pvi_1160.004"/> geboten, wie es mit der Form die Verhältnisse des Lichts und der Farbe <lb n="pvi_1160.005"/> erfaßt: als <hi rendition="#g">Malerei.</hi> Hiemit ist Alles erschöpft, was im Raum ohne <lb n="pvi_1160.006"/> wirkliche Bewegung dargestellt werden kann; eine Verbindung der letzteren <lb n="pvi_1160.007"/> aber mit der räumlichen Darstellung ist, wie wir sahen, nur möglich durch <lb n="pvi_1160.008"/> Verwendung lebendigen Naturstoffs in der blos anhängenden Kunstform <lb n="pvi_1160.009"/> der Gymnastik (ebenso der Orchestik). Jede der einzelnen Beschränkungen <lb n="pvi_1160.010"/> in dieser Folge der Künste erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Vollkommenes <lb n="pvi_1160.011"/> und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb <lb n="pvi_1160.012"/> mit Nothwendigkeit zur <hi rendition="#g">Musik.</hi> Wir haben gesehen, was diese gewinnt <lb n="pvi_1160.013"/> und verliert, indem sie die Welt der Jnnerlichkeit, das subjective Leben, in <lb n="pvi_1160.014"/> der Form der reinen Bewegung, d. h. so ausspricht, daß das geistige Zeitleben <lb n="pvi_1160.015"/> im Zeitleben des Darstellungsmittels seinen Ausdruck findet, aber keine <lb n="pvi_1160.016"/> sich bewegende Gestalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu sehen <lb n="pvi_1160.017"/> ist. Erst jetzt vermochte die Kunst das innerste Geheimniß der Dinge, wie <lb n="pvi_1160.018"/> es vom Menschen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in seinen <lb n="pvi_1160.019"/> Busen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das still über den Gestalten <lb n="pvi_1160.020"/> der bildenden Kunst schwebt, ihnen und dem Zuschauer auf der Zunge liegt <lb n="pvi_1160.021"/> und sich nicht lösen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte <lb n="pvi_1160.022"/> sie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte <lb n="pvi_1160.023"/> sie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenstand anzugeben; sie war <lb n="pvi_1160.024"/> ganz Gefühl und stand still an der Schwelle des Bewußtseins. Das Gefühl <lb n="pvi_1160.025"/> haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geisteslebens erkannt, <lb n="pvi_1160.026"/> welche stetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die <lb n="pvi_1160.027"/> volle Empfindung des Mangels da, sondern positiv war es uns, als müsse <lb n="pvi_1160.028"/> er jeden Augenblick sich tilgen, das Object schwebte stets in die nächste <lb n="pvi_1160.029"/> Nähe heran, ja die ganze Kunstform verband sich mit der Sprache des <lb n="pvi_1160.030"/> Bewußtseins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen, <lb n="pvi_1160.031"/> freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Jsolirung der Erscheinungsseiten <lb n="pvi_1160.032"/> in der Kunst begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit <lb n="pvi_1160.033"/> ihrer Sphären und die selbständige Musik mußte daher für reiner erklärt <lb n="pvi_1160.034"/> werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt <lb n="pvi_1160.035"/> werden soll, welche auch diese neue, so reiche und tiefe Kunstform zurückgelassen <lb n="pvi_1160.036"/> hat, muß sich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu <lb n="pvi_1160.037"/> der andern Kunst überführten, wesentlich unterscheiden. Dort bestand das <lb n="pvi_1160.038"/> Neue nicht darin, daß je die neue Kunstform, um dem Mangel der in der <lb n="pvi_1160.039"/> logischen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieser liegende <lb n="pvi_1160.040"/> Hauptform zurückgriff, sondern sie behielt zwar etwas von der vorhergehenden <lb n="pvi_1160.041"/> (wie die Plastik von der Baukunst das schwere Material, die massiv räumliche </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1160/0022]
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dargestellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und pvi_1160.002
das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem pvi_1160.003
und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität seines Wahrnehmens pvi_1160.004
geboten, wie es mit der Form die Verhältnisse des Lichts und der Farbe pvi_1160.005
erfaßt: als Malerei. Hiemit ist Alles erschöpft, was im Raum ohne pvi_1160.006
wirkliche Bewegung dargestellt werden kann; eine Verbindung der letzteren pvi_1160.007
aber mit der räumlichen Darstellung ist, wie wir sahen, nur möglich durch pvi_1160.008
Verwendung lebendigen Naturstoffs in der blos anhängenden Kunstform pvi_1160.009
der Gymnastik (ebenso der Orchestik). Jede der einzelnen Beschränkungen pvi_1160.010
in dieser Folge der Künste erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Vollkommenes pvi_1160.011
und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb pvi_1160.012
mit Nothwendigkeit zur Musik. Wir haben gesehen, was diese gewinnt pvi_1160.013
und verliert, indem sie die Welt der Jnnerlichkeit, das subjective Leben, in pvi_1160.014
der Form der reinen Bewegung, d. h. so ausspricht, daß das geistige Zeitleben pvi_1160.015
im Zeitleben des Darstellungsmittels seinen Ausdruck findet, aber keine pvi_1160.016
sich bewegende Gestalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu sehen pvi_1160.017
ist. Erst jetzt vermochte die Kunst das innerste Geheimniß der Dinge, wie pvi_1160.018
es vom Menschen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in seinen pvi_1160.019
Busen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das still über den Gestalten pvi_1160.020
der bildenden Kunst schwebt, ihnen und dem Zuschauer auf der Zunge liegt pvi_1160.021
und sich nicht lösen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte pvi_1160.022
sie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte pvi_1160.023
sie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenstand anzugeben; sie war pvi_1160.024
ganz Gefühl und stand still an der Schwelle des Bewußtseins. Das Gefühl pvi_1160.025
haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geisteslebens erkannt, pvi_1160.026
welche stetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die pvi_1160.027
volle Empfindung des Mangels da, sondern positiv war es uns, als müsse pvi_1160.028
er jeden Augenblick sich tilgen, das Object schwebte stets in die nächste pvi_1160.029
Nähe heran, ja die ganze Kunstform verband sich mit der Sprache des pvi_1160.030
Bewußtseins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen, pvi_1160.031
freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Jsolirung der Erscheinungsseiten pvi_1160.032
in der Kunst begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit pvi_1160.033
ihrer Sphären und die selbständige Musik mußte daher für reiner erklärt pvi_1160.034
werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt pvi_1160.035
werden soll, welche auch diese neue, so reiche und tiefe Kunstform zurückgelassen pvi_1160.036
hat, muß sich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu pvi_1160.037
der andern Kunst überführten, wesentlich unterscheiden. Dort bestand das pvi_1160.038
Neue nicht darin, daß je die neue Kunstform, um dem Mangel der in der pvi_1160.039
logischen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieser liegende pvi_1160.040
Hauptform zurückgriff, sondern sie behielt zwar etwas von der vorhergehenden pvi_1160.041
(wie die Plastik von der Baukunst das schwere Material, die massiv räumliche
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