Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1359.001 1. Es kann auffallen, daß wir diese Gruppen von objectiven Formen pvi_1359.002 2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenstand, pvi_1359.020 pvi_1359.001 1. Es kann auffallen, daß wir diese Gruppen von objectiven Formen pvi_1359.002 2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenstand, pvi_1359.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0221" n="1359"/> <lb n="pvi_1359.001"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Es kann auffallen, daß wir diese Gruppen von objectiven Formen <lb n="pvi_1359.002"/> zum Liede rechnen, das im engsten Sinne subjectiv ist. Man unterscheide <lb n="pvi_1359.003"/> aber die Objectivität, von der es hier sich handelt, wohl von derjenigen, <lb n="pvi_1359.004"/> welche dem Hymnischen zu Grunde liegt: in diesem Gebiete blieb das <lb n="pvi_1359.005"/> Subject außerhalb des Gegenstands und wandte sich nur, obwohl tief <lb n="pvi_1359.006"/> bewegt, an ihn, im gegenwärtigen <hi rendition="#g">setzt</hi> das Subject den Gegenstand als <lb n="pvi_1359.007"/> einen solchen, der erst durch sein Jnneres gegangen ist; nicht als handle <lb n="pvi_1359.008"/> es sich um einen Act reiner Fiction, vielmehr der Dichter hat sich ganz <lb n="pvi_1359.009"/> und ohne eigenes Bewußtsein über jene tiefste Bedeutung des Lyrischen, <lb n="pvi_1359.010"/> wonach sich in ihm die Subjectivität als Centrum der Welt erweist, an <lb n="pvi_1359.011"/> das Object hingegeben, von ihm durchziehen lassen, ebendadurch aber, indem <lb n="pvi_1359.012"/> er ganz passiv scheint, es mit seinem Jnnern ganz durchdrungen, ganz <lb n="pvi_1359.013"/> in Stimmung umgewandelt, und indem er es wiedergibt, kommt es nun <lb n="pvi_1359.014"/> zu Tage ganz getaucht in lauter Bebung des Gefühls. Man sieht den <lb n="pvi_1359.015"/> Prozeß nicht mehr, der Erfolg tritt ganz als unmittelbare Thatsache auf. <lb n="pvi_1359.016"/> So erscheint der ächt lyrische Charakter des Liedes gerade da in seiner <lb n="pvi_1359.017"/> vollen Kraft, wo er sich an seinem Gegentheile geltend macht, indem er <lb n="pvi_1359.018"/> im Objectiven und Vermittelten eben recht subjectiv und unmittelbar ist.</hi> </p> <lb n="pvi_1359.019"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenstand, <lb n="pvi_1359.020"/> welcher der Anschauung geboten wird, aber in der einen Gruppe gegenwärtig, <lb n="pvi_1359.021"/> wiewohl dabei eine Succession von Momenten sich abwickeln kann, <lb n="pvi_1359.022"/> in der andern vergangen. Die erstere, die wir zunächst in's Auge fassen, <lb n="pvi_1359.023"/> scheint viel unzweifelhafter lyrisch, denn die Vergangenheit begründet ein <lb n="pvi_1359.024"/> stärkeres Zurücktreten des Subjects vom Object. Dieß gilt jedenfalls von <lb n="pvi_1359.025"/> der ersten Form dieser Gruppe: es ist die einfache Form der Verkleidung, <lb n="pvi_1359.026"/> wo der Dichter aus der Maske einer zweiten Person oder, wie in so vielen <lb n="pvi_1359.027"/> geselligen und Standes-Liedern, aus einer Vielheit von solchen spricht; er <lb n="pvi_1359.028"/> hat sich völlig in den Zustand der andern Persönlichkeit hineinempfunden, <lb n="pvi_1359.029"/> so stellt er doch ganz seinen eigenen Stimmungszustand dar und liegt daher <lb n="pvi_1359.030"/> das Lied, das auf diesem Acte beruht, dem objectlos reinen Lied am nächsten. <lb n="pvi_1359.031"/> Man braucht gar kein besonderes Gewicht darauf zu legen, daß die Stimmung <lb n="pvi_1359.032"/> oft in dem engeren Sinn die eigene des Dichters ist, wie im Mignon= <lb n="pvi_1359.033"/> Liede: „Kennst du das Land“, wo Göthe mit der fremden seine eigene <lb n="pvi_1359.034"/> Sehnsucht nach Jtalien ausspricht, oder in so unzähligen Liedern, wo der <lb n="pvi_1359.035"/> Dichter Empfindungen so allgemeiner Art, daß er sie sicher auch persönlich <lb n="pvi_1359.036"/> erlebt, wie unglückliche Liebe, Weinlust, in einer bestimmten Maske, als <lb n="pvi_1359.037"/> Hirt, Jäger, Musikant u. s. w. und mit einer bestimmten Situation ausspricht: <lb n="pvi_1359.038"/> er kann sich in spezifischere Lebensformen, Zustände, Situationen <lb n="pvi_1359.039"/> versetzen, welche nie seine eigenen sein konnten, und sie doch so tiefgefühlt <lb n="pvi_1359.040"/> wie eigene und selbsterlebte wiedergeben. Wir erinnern statt vieler <lb n="pvi_1359.041"/> Beispiele nur an jenes Gebet Gretchen's im Faust, an die Lieder des </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1359/0221]
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1. Es kann auffallen, daß wir diese Gruppen von objectiven Formen pvi_1359.002
zum Liede rechnen, das im engsten Sinne subjectiv ist. Man unterscheide pvi_1359.003
aber die Objectivität, von der es hier sich handelt, wohl von derjenigen, pvi_1359.004
welche dem Hymnischen zu Grunde liegt: in diesem Gebiete blieb das pvi_1359.005
Subject außerhalb des Gegenstands und wandte sich nur, obwohl tief pvi_1359.006
bewegt, an ihn, im gegenwärtigen setzt das Subject den Gegenstand als pvi_1359.007
einen solchen, der erst durch sein Jnneres gegangen ist; nicht als handle pvi_1359.008
es sich um einen Act reiner Fiction, vielmehr der Dichter hat sich ganz pvi_1359.009
und ohne eigenes Bewußtsein über jene tiefste Bedeutung des Lyrischen, pvi_1359.010
wonach sich in ihm die Subjectivität als Centrum der Welt erweist, an pvi_1359.011
das Object hingegeben, von ihm durchziehen lassen, ebendadurch aber, indem pvi_1359.012
er ganz passiv scheint, es mit seinem Jnnern ganz durchdrungen, ganz pvi_1359.013
in Stimmung umgewandelt, und indem er es wiedergibt, kommt es nun pvi_1359.014
zu Tage ganz getaucht in lauter Bebung des Gefühls. Man sieht den pvi_1359.015
Prozeß nicht mehr, der Erfolg tritt ganz als unmittelbare Thatsache auf. pvi_1359.016
So erscheint der ächt lyrische Charakter des Liedes gerade da in seiner pvi_1359.017
vollen Kraft, wo er sich an seinem Gegentheile geltend macht, indem er pvi_1359.018
im Objectiven und Vermittelten eben recht subjectiv und unmittelbar ist.
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2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenstand, pvi_1359.020
welcher der Anschauung geboten wird, aber in der einen Gruppe gegenwärtig, pvi_1359.021
wiewohl dabei eine Succession von Momenten sich abwickeln kann, pvi_1359.022
in der andern vergangen. Die erstere, die wir zunächst in's Auge fassen, pvi_1359.023
scheint viel unzweifelhafter lyrisch, denn die Vergangenheit begründet ein pvi_1359.024
stärkeres Zurücktreten des Subjects vom Object. Dieß gilt jedenfalls von pvi_1359.025
der ersten Form dieser Gruppe: es ist die einfache Form der Verkleidung, pvi_1359.026
wo der Dichter aus der Maske einer zweiten Person oder, wie in so vielen pvi_1359.027
geselligen und Standes-Liedern, aus einer Vielheit von solchen spricht; er pvi_1359.028
hat sich völlig in den Zustand der andern Persönlichkeit hineinempfunden, pvi_1359.029
so stellt er doch ganz seinen eigenen Stimmungszustand dar und liegt daher pvi_1359.030
das Lied, das auf diesem Acte beruht, dem objectlos reinen Lied am nächsten. pvi_1359.031
Man braucht gar kein besonderes Gewicht darauf zu legen, daß die Stimmung pvi_1359.032
oft in dem engeren Sinn die eigene des Dichters ist, wie im Mignon= pvi_1359.033
Liede: „Kennst du das Land“, wo Göthe mit der fremden seine eigene pvi_1359.034
Sehnsucht nach Jtalien ausspricht, oder in so unzähligen Liedern, wo der pvi_1359.035
Dichter Empfindungen so allgemeiner Art, daß er sie sicher auch persönlich pvi_1359.036
erlebt, wie unglückliche Liebe, Weinlust, in einer bestimmten Maske, als pvi_1359.037
Hirt, Jäger, Musikant u. s. w. und mit einer bestimmten Situation ausspricht: pvi_1359.038
er kann sich in spezifischere Lebensformen, Zustände, Situationen pvi_1359.039
versetzen, welche nie seine eigenen sein konnten, und sie doch so tiefgefühlt pvi_1359.040
wie eigene und selbsterlebte wiedergeben. Wir erinnern statt vieler pvi_1359.041
Beispiele nur an jenes Gebet Gretchen's im Faust, an die Lieder des
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