Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1360.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0222" n="1360"/><lb n="pvi_1360.001"/> Harfners im W. Meister, an Heine's „Hirtenknaben“. Rein menschlicher <lb n="pvi_1360.002"/> Gehalt ist natürlich auch im Spezifischen vorausgesetzt. Vielleicht die ganze <lb n="pvi_1360.003"/> Hälfte des lyrischen Parnasses gehört dieser einfachen Uebertragungsform <lb n="pvi_1360.004"/> an. Auch in die Natur kann der Dichter sein Jnneres legen und aus ihr <lb n="pvi_1360.005"/> sprechen lassen, wie Göthe in: „der Junggesell und der Mühlbach“ oder <lb n="pvi_1360.006"/> wie Anakreon durch seine Taube sagen läßt, wie es sich bei ihm lebt. – <lb n="pvi_1360.007"/> Die zwei andern Formen dieser Gruppe sind viel weniger unmittelbar: <lb n="pvi_1360.008"/> der Dichter gibt ein kurzes Sittenbild, kleines Landschaftgemälde; er tritt <lb n="pvi_1360.009"/> nicht im eigenen, auch nicht im Namen eines Andern auf, er zeigt ein <lb n="pvi_1360.010"/> Object, aber ein gegenwärtiges, auf und läßt dasselbe so ohne alles <lb n="pvi_1360.011"/> weitere Zuthun für sich sprechen. Es scheint nichts einfacher, als ganz auf <lb n="pvi_1360.012"/> den eigenen Vortrag des Gefühls zu verzichten, es ganz in den Gegenstand <lb n="pvi_1360.013"/> zu versenken, aber dieß Verzichten geschieht mit mehr Bewußtheit, als es <lb n="pvi_1360.014"/> scheint, und zugleich hängt die Richtung mit denselben Ursachen zusammen, <lb n="pvi_1360.015"/> aus welchen in der neueren Zeit das Sittenbild und die Landschaft in der <lb n="pvi_1360.016"/> Malerei eine so bedeutende Rolle spielt: dem Jnteresse für die Aufdeckung <lb n="pvi_1360.017"/> immer neuer Länder, Zonen, den ethnographischen, naturwissenschaftlichen <lb n="pvi_1360.018"/> Neigungen, und allerdings zugleich der Sehnsucht nach Frischem, von der <lb n="pvi_1360.019"/> Sündfluth der Reisenden nicht Abgelecktem, also in Culturmüde, in idyllischem <lb n="pvi_1360.020"/> Bedürfnisse. So sind denn diese Formen sehr modern. Bei Heine hatten sie <lb n="pvi_1360.021"/> entschieden noch subjectiveren Ton, wie sein unheimliches Bild des Jägerhauses <lb n="pvi_1360.022"/> „Die Nacht ist feucht und stürmisch“ (Heimkehr <hi rendition="#aq">N. V</hi>), des Pfarrhauses <lb n="pvi_1360.023"/> (<hi rendition="#aq">N. XXVIII</hi>) „Der bleiche, herbstliche Halbmond“, das Völkerbild: <lb n="pvi_1360.024"/> „Wir saßen im Fischerhause“ (<hi rendition="#aq">N. VII</hi>), das rührende kleine Gemälde: <lb n="pvi_1360.025"/> „Das ist ein schlechtes Wetter“ (<hi rendition="#aq">N. XXIX</hi>), die liebliche Berg-Jdylle aus <lb n="pvi_1360.026"/> dem Harze, diese nur leider mit dem blasirten <hi rendition="#aq">cremor tartari</hi> stark vermischt; <lb n="pvi_1360.027"/> ebenso die vielen tief bewegten Landschaftbilder; die berühmten Strophen <lb n="pvi_1360.028"/> von der Fichte und Palme gehören nicht der vorliegenden, sondern jener <lb n="pvi_1360.029"/> ersten Form an, weil sie, obwohl in schlagend einfacher Objectivität, doch <lb n="pvi_1360.030"/> durch eine poetische Fiction einem Naturgegenstande ganz menschliches Empfinden <lb n="pvi_1360.031"/> leihen. Lenau's Bilder magyarischer Zustände und Haiden entwickeln <lb n="pvi_1360.032"/> bereits mehr das Object an sich und Freiligrath wird ganz zum glühenden, <lb n="pvi_1360.033"/> aber auch seinen Pinsel sehr bewußt führenden Maler menschlichen, thierischen, <lb n="pvi_1360.034"/> landschaftlichen Lebens aus der Wildniß, wohin der Fuß der Cultur nicht <lb n="pvi_1360.035"/> getreten. Das sanfte und schöne Gemüth C. Mayer's liebt es besonders, <lb n="pvi_1360.036"/> mit völliger Verzichtung auf ein Wort im eigenen Namen kleine Bilder <lb n="pvi_1360.037"/> friedlich heimlicher Landschaft aneinanderzureihen. Recht und Fug solcher <lb n="pvi_1360.038"/> lyrischen Objectivität kann nach dem Obigen nicht bestritten werden, nur <lb n="pvi_1360.039"/> wechsle sie öfter mit directem Aussprechen der Stimmung, denn schließlich ist <lb n="pvi_1360.040"/> sie doch ein Zurückhalten, das im Fortgang ermüdet, weil man der Natur <lb n="pvi_1360.041"/> der Gattung nach darauf wartet, die Menschenstimme selbst zu vernehmen.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1360/0222]
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Harfners im W. Meister, an Heine's „Hirtenknaben“. Rein menschlicher pvi_1360.002
Gehalt ist natürlich auch im Spezifischen vorausgesetzt. Vielleicht die ganze pvi_1360.003
Hälfte des lyrischen Parnasses gehört dieser einfachen Uebertragungsform pvi_1360.004
an. Auch in die Natur kann der Dichter sein Jnneres legen und aus ihr pvi_1360.005
sprechen lassen, wie Göthe in: „der Junggesell und der Mühlbach“ oder pvi_1360.006
wie Anakreon durch seine Taube sagen läßt, wie es sich bei ihm lebt. – pvi_1360.007
Die zwei andern Formen dieser Gruppe sind viel weniger unmittelbar: pvi_1360.008
der Dichter gibt ein kurzes Sittenbild, kleines Landschaftgemälde; er tritt pvi_1360.009
nicht im eigenen, auch nicht im Namen eines Andern auf, er zeigt ein pvi_1360.010
Object, aber ein gegenwärtiges, auf und läßt dasselbe so ohne alles pvi_1360.011
weitere Zuthun für sich sprechen. Es scheint nichts einfacher, als ganz auf pvi_1360.012
den eigenen Vortrag des Gefühls zu verzichten, es ganz in den Gegenstand pvi_1360.013
zu versenken, aber dieß Verzichten geschieht mit mehr Bewußtheit, als es pvi_1360.014
scheint, und zugleich hängt die Richtung mit denselben Ursachen zusammen, pvi_1360.015
aus welchen in der neueren Zeit das Sittenbild und die Landschaft in der pvi_1360.016
Malerei eine so bedeutende Rolle spielt: dem Jnteresse für die Aufdeckung pvi_1360.017
immer neuer Länder, Zonen, den ethnographischen, naturwissenschaftlichen pvi_1360.018
Neigungen, und allerdings zugleich der Sehnsucht nach Frischem, von der pvi_1360.019
Sündfluth der Reisenden nicht Abgelecktem, also in Culturmüde, in idyllischem pvi_1360.020
Bedürfnisse. So sind denn diese Formen sehr modern. Bei Heine hatten sie pvi_1360.021
entschieden noch subjectiveren Ton, wie sein unheimliches Bild des Jägerhauses pvi_1360.022
„Die Nacht ist feucht und stürmisch“ (Heimkehr N. V), des Pfarrhauses pvi_1360.023
(N. XXVIII) „Der bleiche, herbstliche Halbmond“, das Völkerbild: pvi_1360.024
„Wir saßen im Fischerhause“ (N. VII), das rührende kleine Gemälde: pvi_1360.025
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dem Harze, diese nur leider mit dem blasirten cremor tartari stark vermischt; pvi_1360.027
ebenso die vielen tief bewegten Landschaftbilder; die berühmten Strophen pvi_1360.028
von der Fichte und Palme gehören nicht der vorliegenden, sondern jener pvi_1360.029
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durch eine poetische Fiction einem Naturgegenstande ganz menschliches Empfinden pvi_1360.031
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bereits mehr das Object an sich und Freiligrath wird ganz zum glühenden, pvi_1360.033
aber auch seinen Pinsel sehr bewußt führenden Maler menschlichen, thierischen, pvi_1360.034
landschaftlichen Lebens aus der Wildniß, wohin der Fuß der Cultur nicht pvi_1360.035
getreten. Das sanfte und schöne Gemüth C. Mayer's liebt es besonders, pvi_1360.036
mit völliger Verzichtung auf ein Wort im eigenen Namen kleine Bilder pvi_1360.037
friedlich heimlicher Landschaft aneinanderzureihen. Recht und Fug solcher pvi_1360.038
lyrischen Objectivität kann nach dem Obigen nicht bestritten werden, nur pvi_1360.039
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sie doch ein Zurückhalten, das im Fortgang ermüdet, weil man der Natur pvi_1360.041
der Gattung nach darauf wartet, die Menschenstimme selbst zu vernehmen.
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