Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1365.001 Wir haben bis hieher abgesehen von den Begriffsbestimmungen, welche pvi_1365.021
pvi_1365.001 Wir haben bis hieher abgesehen von den Begriffsbestimmungen, welche pvi_1365.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0227" n="1365"/><lb n="pvi_1365.001"/> doch viel von dem tief dunkel bewegten, springenden, dramatischen Style <lb n="pvi_1365.002"/> der ächten Ballade, und etwa noch außer dem Handschuh, wo ähnliche <lb n="pvi_1365.003"/> Bewegung waltet. Wählt er den Namen wegen des glücklichen Ausgangs <lb n="pvi_1365.004"/> im Gegensatze mit der tragischen Schicksals-Jdee in den andern, so wären <lb n="pvi_1365.005"/> der Gang nach dem Eisenhammer, der Graf von Habsburg, die Bürgschaft <lb n="pvi_1365.006"/> auch Romanzen zu nennen. Das Richtige wird sein, von Schiller's sämmtlichen <lb n="pvi_1365.007"/> episch lyrischen Gedichten zu sagen: sie haben von der Ballade den <lb n="pvi_1365.008"/> stark bewegten dramatischen Gang, aber nicht das Helldunkel des reinen <lb n="pvi_1365.009"/> Empfindungstons, der immer eine Verwandtschaft mit dem Volksliede auch <lb n="pvi_1365.010"/> in der Kunstpoesie bewahrt, vielmehr neigen sie durch ihre lichte Bewußtheit <lb n="pvi_1365.011"/> und Sentenziosität noch über die Helle der Romanze hinüber in die betrachtende <lb n="pvi_1365.012"/> Lyrik; zugleich aber seien sie durch die Fülle und Pracht ihrer <lb n="pvi_1365.013"/> Schilderungen episch über das Maaß dieser Eigenschaft hinaus, wie wir sie <lb n="pvi_1365.014"/> ebenfalls der Romanze zuerkannten, ja auch über das Maaß des Epos, <lb n="pvi_1365.015"/> nämlich mit zu fühlbarer rhetorischer, declamatorischer Haltung; ein Verhältniß <lb n="pvi_1365.016"/> der Kräfte, mit dem man sich, so oft der Mangel des Naiven, <lb n="pvi_1365.017"/> ächt Liederartigen sich bis zum Ueberdruß aufzudrängen droht, doch immer <lb n="pvi_1365.018"/> wieder versöhnt durch die Entschiedenheit des Einen Grundzugs, der dramatischen <lb n="pvi_1365.019"/> Energie, die ganz den wirklich dramatischen Dichter ankündigt.</hi> </p> <lb n="pvi_1365.020"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir haben bis hieher abgesehen von den Begriffsbestimmungen, welche <lb n="pvi_1365.021"/> Echtermeyer in der Abh.: „Unsere Balladen- und Romanzenpoesie“ (Hall. <lb n="pvi_1365.022"/> Jahrb. 1839, N. 96 ff.) gegeben hat, um weder unsere Entwicklung, noch <lb n="pvi_1365.023"/> die Beurtheilung zu verwirren. Er geht vom Jnhalt aus und erklärt die <lb n="pvi_1365.024"/> Ballade für die Form, worin der noch natürlich bestimmte Volksgeist, der <lb n="pvi_1365.025"/> Geist in seiner Naturbedingtheit sich ausspreche, wie er entweder den Gewalten <lb n="pvi_1365.026"/> der äußeren Natur unterliegt, oder seinen eigenen dunkeln Trieben <lb n="pvi_1365.027"/> anheimfällt und von ihnen verschlungen wird, – die Nachtseite des Geistes, <lb n="pvi_1365.028"/> die denn eine düstere Stimmung und eine tragische Wendung begründe; <lb n="pvi_1365.029"/> die Romanze dagegen soll, nicht mehr an einen bestimmten Volksgeist gebunden, <lb n="pvi_1365.030"/> der rein menschlichen Bildung angehörig, das ideale Selbstbewußtsein, <lb n="pvi_1365.031"/> die freie sittliche Macht des Geistes verherrlichen. Daraus leitet er <lb n="pvi_1365.032"/> dann den Styl-Unterschied ab und faßt ihn ähnlich unserer Bestimmung. <lb n="pvi_1365.033"/> Es scheint dieß eine klare und einleuchtende Entscheidung der schwierigen <lb n="pvi_1365.034"/> Frage; sieht man aber näher zu, so wird man finden, daß dieser Schein <lb n="pvi_1365.035"/> täuscht. Für's Erste wird nicht Alles eingetheilt, was einzutheilen ist: <lb n="pvi_1365.036"/> wohin soll die ganze große Welt des Gemüthslebens fallen, die weder der <lb n="pvi_1365.037"/> düstern Nachtseite des unfreien, noch dem vollen Tage des sittlich selbstbewußten <lb n="pvi_1365.038"/> und wollenden Geistes angehört? Vor Allem die Welt der Liebe, <lb n="pvi_1365.039"/> sofern sie nicht in ideales Denken erhoben und doch in sich frei, schön und <lb n="pvi_1365.040"/> heiter ist? Der nordische Styl wird sie dunkel, ahnungsvoll, der südliche <lb n="pvi_1365.041"/> wird sie licht und klar behandeln, dort wird eine Ballade, hier eine Romanze </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1365/0227]
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doch viel von dem tief dunkel bewegten, springenden, dramatischen Style pvi_1365.002
der ächten Ballade, und etwa noch außer dem Handschuh, wo ähnliche pvi_1365.003
Bewegung waltet. Wählt er den Namen wegen des glücklichen Ausgangs pvi_1365.004
im Gegensatze mit der tragischen Schicksals-Jdee in den andern, so wären pvi_1365.005
der Gang nach dem Eisenhammer, der Graf von Habsburg, die Bürgschaft pvi_1365.006
auch Romanzen zu nennen. Das Richtige wird sein, von Schiller's sämmtlichen pvi_1365.007
episch lyrischen Gedichten zu sagen: sie haben von der Ballade den pvi_1365.008
stark bewegten dramatischen Gang, aber nicht das Helldunkel des reinen pvi_1365.009
Empfindungstons, der immer eine Verwandtschaft mit dem Volksliede auch pvi_1365.010
in der Kunstpoesie bewahrt, vielmehr neigen sie durch ihre lichte Bewußtheit pvi_1365.011
und Sentenziosität noch über die Helle der Romanze hinüber in die betrachtende pvi_1365.012
Lyrik; zugleich aber seien sie durch die Fülle und Pracht ihrer pvi_1365.013
Schilderungen episch über das Maaß dieser Eigenschaft hinaus, wie wir sie pvi_1365.014
ebenfalls der Romanze zuerkannten, ja auch über das Maaß des Epos, pvi_1365.015
nämlich mit zu fühlbarer rhetorischer, declamatorischer Haltung; ein Verhältniß pvi_1365.016
der Kräfte, mit dem man sich, so oft der Mangel des Naiven, pvi_1365.017
ächt Liederartigen sich bis zum Ueberdruß aufzudrängen droht, doch immer pvi_1365.018
wieder versöhnt durch die Entschiedenheit des Einen Grundzugs, der dramatischen pvi_1365.019
Energie, die ganz den wirklich dramatischen Dichter ankündigt.
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Wir haben bis hieher abgesehen von den Begriffsbestimmungen, welche pvi_1365.021
Echtermeyer in der Abh.: „Unsere Balladen- und Romanzenpoesie“ (Hall. pvi_1365.022
Jahrb. 1839, N. 96 ff.) gegeben hat, um weder unsere Entwicklung, noch pvi_1365.023
die Beurtheilung zu verwirren. Er geht vom Jnhalt aus und erklärt die pvi_1365.024
Ballade für die Form, worin der noch natürlich bestimmte Volksgeist, der pvi_1365.025
Geist in seiner Naturbedingtheit sich ausspreche, wie er entweder den Gewalten pvi_1365.026
der äußeren Natur unterliegt, oder seinen eigenen dunkeln Trieben pvi_1365.027
anheimfällt und von ihnen verschlungen wird, – die Nachtseite des Geistes, pvi_1365.028
die denn eine düstere Stimmung und eine tragische Wendung begründe; pvi_1365.029
die Romanze dagegen soll, nicht mehr an einen bestimmten Volksgeist gebunden, pvi_1365.030
der rein menschlichen Bildung angehörig, das ideale Selbstbewußtsein, pvi_1365.031
die freie sittliche Macht des Geistes verherrlichen. Daraus leitet er pvi_1365.032
dann den Styl-Unterschied ab und faßt ihn ähnlich unserer Bestimmung. pvi_1365.033
Es scheint dieß eine klare und einleuchtende Entscheidung der schwierigen pvi_1365.034
Frage; sieht man aber näher zu, so wird man finden, daß dieser Schein pvi_1365.035
täuscht. Für's Erste wird nicht Alles eingetheilt, was einzutheilen ist: pvi_1365.036
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düstern Nachtseite des unfreien, noch dem vollen Tage des sittlich selbstbewußten pvi_1365.038
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heiter ist? Der nordische Styl wird sie dunkel, ahnungsvoll, der südliche pvi_1365.041
wird sie licht und klar behandeln, dort wird eine Ballade, hier eine Romanze
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