Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1369.001
pvi_1369.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0231" n="1369"/><lb n="pvi_1369.001"/> doch schon, ihm zuzusehen, frei über ihm zu schweben; der Liederdichter fühlt, <lb n="pvi_1369.002"/> der elegische bespricht, was er fühlt; das Gefühl mag noch so heiß sein, <lb n="pvi_1369.003"/> es verdunstet in der Elegie eben im Aufsprühen. Dieß führt uns denn <lb n="pvi_1369.004"/> auf den Ausgangspunct und zu dem Begriffe der Wehmuth und Trauer <lb n="pvi_1369.005"/> zurück. Nur im unbestimmteren Sinne des Worts liegt ein Zug derselben <lb n="pvi_1369.006"/> zunächst in jenem Abschiednehmen von der Empfindung; es erhellt aber, <lb n="pvi_1369.007"/> wie nahe der Schritt gelegt ist, in den bestimmteren Ton der Klage überzugehen, <lb n="pvi_1369.008"/> der nun ein Abschiednehmen vom schönen Gegenstand ausspricht. <lb n="pvi_1369.009"/> Jch blicke auf meine Empfindung wie auf eine flüchtige, entschwindende: <lb n="pvi_1369.010"/> so wird mir ja die Empfindung selbst zum schönen Gegenstande, an dem <lb n="pvi_1369.011"/> ich erfahre, daß die Momente der höchsten Lebenserregung kurz und vergänglich <lb n="pvi_1369.012"/> sind, und es ist nur natürlich, wenn ich nun von der Empfindung <lb n="pvi_1369.013"/> den Gegenstand und Jnhalt derselben unterscheide und die Flüchtigkeit des <lb n="pvi_1369.014"/> Glückes auch objectiv mit entschiedener Stimmung der Trauer betone. Dann <lb n="pvi_1369.015"/> wird die Elegie zu dem, was man sich in der neueren Zeit gewöhnlich <lb n="pvi_1369.016"/> unter ihr vorstellt, zum Gedichte der Klage um verlorenes schönes Gut des <lb n="pvi_1369.017"/> Lebens, sie ist es gerne, und sie ist es ja auch schon im griechischen Alterthum <lb n="pvi_1369.018"/> gewesen, aber jener Klang der Wehmuth durchzieht sie wie ein Ton <lb n="pvi_1369.019"/> der Aeolsharfe, auch wenn sie ganz nur von Freude und glücklicher Gegenwart <lb n="pvi_1369.020"/> singt. Es ergibt sich nun, daß dieser Form aus dem tieferen Grunde <lb n="pvi_1369.021"/> die Stelle an der nahen Grenze der ungemischten Poesie anzuweisen ist, <lb n="pvi_1369.022"/> weil sie eigentlich weiß, daß das Jdeal nur momentan in das Leben eintritt. <lb n="pvi_1369.023"/> Der schöne Moment, auf den sie selbst mitten in seiner Feier schon <lb n="pvi_1369.024"/> wie auf einen fliehenden zurückblickt, ist in Wahrheit nichts Anderes, als <lb n="pvi_1369.025"/> die ideale Verklärung des Lebens, welche in der empirischen Wirklichkeit <lb n="pvi_1369.026"/> ohne den Zauber der Kunst nur scheinbar und rasch entschwindend eintritt, <lb n="pvi_1369.027"/> denn dieß ist ja der Charakter alles Naturschönen, welche aber von der <lb n="pvi_1369.028"/> Kunst <hi rendition="#g">bleibend</hi> vollzogen wird; die Elegie steht also nicht rein inmitten <lb n="pvi_1369.029"/> der idealen Phantasie, sondern sehnt sich von dem Standpuncte der Wirklichkeit <lb n="pvi_1369.030"/> nach dem Jdeale, welches dem ungetheilten ästhetisch idealen Bewußtsein <lb n="pvi_1369.031"/> ein stetiges Diesseits ist, als nach einem Jenseits, das nur vorübergehendes <lb n="pvi_1369.032"/> Diesseits wird, und trauert dem flüchtigen Eintritte desselben nach. <lb n="pvi_1369.033"/> Sie trauert eigentlich um die ideale Phantasie selbst; eine Poesie, die so <lb n="pvi_1369.034"/> eben nicht mehr ganze Poesie ist, trauert um die ganze. Schiller stellt in <lb n="pvi_1369.035"/> der Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst die Elegie als eine <lb n="pvi_1369.036"/> Form der letzteren auf; was er aber sentimentale Dichtkunst nennt, ist diejenige, <lb n="pvi_1369.037"/> welche das Wirkliche und die Jdee nur aufeinander <hi rendition="#g">bezieht,</hi> und <lb n="pvi_1369.038"/> so gesteht er damit, daß die Elegie den einen Fuß schon auf der Grenze <lb n="pvi_1369.039"/> der Poesie hat. Er selbst hat in den Gedichten: die Jdeale und: das Jdeal <lb n="pvi_1369.040"/> und das Leben dieß geradezu bestätigt und die Elegie im Grunde verrathen: <lb n="pvi_1369.041"/> im ersteren, indem er sich zum Schlusse rein prosaisch mit der Befriedigung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1369/0231]
pvi_1369.001
doch schon, ihm zuzusehen, frei über ihm zu schweben; der Liederdichter fühlt, pvi_1369.002
der elegische bespricht, was er fühlt; das Gefühl mag noch so heiß sein, pvi_1369.003
es verdunstet in der Elegie eben im Aufsprühen. Dieß führt uns denn pvi_1369.004
auf den Ausgangspunct und zu dem Begriffe der Wehmuth und Trauer pvi_1369.005
zurück. Nur im unbestimmteren Sinne des Worts liegt ein Zug derselben pvi_1369.006
zunächst in jenem Abschiednehmen von der Empfindung; es erhellt aber, pvi_1369.007
wie nahe der Schritt gelegt ist, in den bestimmteren Ton der Klage überzugehen, pvi_1369.008
der nun ein Abschiednehmen vom schönen Gegenstand ausspricht. pvi_1369.009
Jch blicke auf meine Empfindung wie auf eine flüchtige, entschwindende: pvi_1369.010
so wird mir ja die Empfindung selbst zum schönen Gegenstande, an dem pvi_1369.011
ich erfahre, daß die Momente der höchsten Lebenserregung kurz und vergänglich pvi_1369.012
sind, und es ist nur natürlich, wenn ich nun von der Empfindung pvi_1369.013
den Gegenstand und Jnhalt derselben unterscheide und die Flüchtigkeit des pvi_1369.014
Glückes auch objectiv mit entschiedener Stimmung der Trauer betone. Dann pvi_1369.015
wird die Elegie zu dem, was man sich in der neueren Zeit gewöhnlich pvi_1369.016
unter ihr vorstellt, zum Gedichte der Klage um verlorenes schönes Gut des pvi_1369.017
Lebens, sie ist es gerne, und sie ist es ja auch schon im griechischen Alterthum pvi_1369.018
gewesen, aber jener Klang der Wehmuth durchzieht sie wie ein Ton pvi_1369.019
der Aeolsharfe, auch wenn sie ganz nur von Freude und glücklicher Gegenwart pvi_1369.020
singt. Es ergibt sich nun, daß dieser Form aus dem tieferen Grunde pvi_1369.021
die Stelle an der nahen Grenze der ungemischten Poesie anzuweisen ist, pvi_1369.022
weil sie eigentlich weiß, daß das Jdeal nur momentan in das Leben eintritt. pvi_1369.023
Der schöne Moment, auf den sie selbst mitten in seiner Feier schon pvi_1369.024
wie auf einen fliehenden zurückblickt, ist in Wahrheit nichts Anderes, als pvi_1369.025
die ideale Verklärung des Lebens, welche in der empirischen Wirklichkeit pvi_1369.026
ohne den Zauber der Kunst nur scheinbar und rasch entschwindend eintritt, pvi_1369.027
denn dieß ist ja der Charakter alles Naturschönen, welche aber von der pvi_1369.028
Kunst bleibend vollzogen wird; die Elegie steht also nicht rein inmitten pvi_1369.029
der idealen Phantasie, sondern sehnt sich von dem Standpuncte der Wirklichkeit pvi_1369.030
nach dem Jdeale, welches dem ungetheilten ästhetisch idealen Bewußtsein pvi_1369.031
ein stetiges Diesseits ist, als nach einem Jenseits, das nur vorübergehendes pvi_1369.032
Diesseits wird, und trauert dem flüchtigen Eintritte desselben nach. pvi_1369.033
Sie trauert eigentlich um die ideale Phantasie selbst; eine Poesie, die so pvi_1369.034
eben nicht mehr ganze Poesie ist, trauert um die ganze. Schiller stellt in pvi_1369.035
der Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst die Elegie als eine pvi_1369.036
Form der letzteren auf; was er aber sentimentale Dichtkunst nennt, ist diejenige, pvi_1369.037
welche das Wirkliche und die Jdee nur aufeinander bezieht, und pvi_1369.038
so gesteht er damit, daß die Elegie den einen Fuß schon auf der Grenze pvi_1369.039
der Poesie hat. Er selbst hat in den Gedichten: die Jdeale und: das Jdeal pvi_1369.040
und das Leben dieß geradezu bestätigt und die Elegie im Grunde verrathen: pvi_1369.041
im ersteren, indem er sich zum Schlusse rein prosaisch mit der Befriedigung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |