Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1370.001 Es kann Widerspruch erregen, daß wir hier die lyrische Poesie Jndiens pvi_1370.033
pvi_1370.001 Es kann Widerspruch erregen, daß wir hier die lyrische Poesie Jndiens pvi_1370.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0232" n="1370"/><lb n="pvi_1370.001"/> tröstet, die in der Beschäftigung liegt, im zweiten, indem er die wahre Erhebung <lb n="pvi_1370.002"/> aus den Enttäuschungen des Lebens im Himmel der Phantasie <lb n="pvi_1370.003"/> sucht, den uns die volle Poesie, ohne ihr Geheimniß zu gestehen, durch die <lb n="pvi_1370.004"/> That auf die Erde senken soll. Die ächte Elegie schwatzt aber doch nicht <lb n="pvi_1370.005"/> so ihr Geheimniß aus, weiß es selbst kaum und ihre Betrachtungen decken <lb n="pvi_1370.006"/> in aller Trauer über die Flüchtigkeit des Schönen nicht so ausdrücklich die <lb n="pvi_1370.007"/> Kluft auf, welche die ganze und volle Kunst schweigend ausfüllt; das heißt <lb n="pvi_1370.008"/> von der Phantasie sprechen, statt in Phantasie thätig sein. Doch wir verdanken <lb n="pvi_1370.009"/> Schiller auch wahre Elegieen. Pompeji und Herculanum, der Spaziergang <lb n="pvi_1370.010"/> gehören zu den schönsten Erscheinungen dieses Gebiets und führen <lb n="pvi_1370.011"/> verglichen mit Göthe's herrlichen römischen Elegien, auf einen Unterschied, <lb n="pvi_1370.012"/> den wir noch zu berühren haben. Dort breitet sich das Jdeale in dem <lb n="pvi_1370.013"/> Bilde der verschütteten Städte, das wunderbar wieder an den Tag der Gegenwart <lb n="pvi_1370.014"/> getreten, in den Landschaftbildern, an denen der Spaziergänger sich <lb n="pvi_1370.015"/> fortbewegt, als objectivere Anschauung vor dem betrachtend fühlenden Geist <lb n="pvi_1370.016"/> aus; hier blickt der Dichter auf persönliches Glück zurück, das sich wohl <lb n="pvi_1370.017"/> wie eine Rose an die Trümmer der großen Vergangenheit der alten Weltstadt <lb n="pvi_1370.018"/> schlingt, wo einst Amor, der dem Liebenden die Lampe schürt, seinen <lb n="pvi_1370.019"/> Triumvirn denselben Dienst gethan hat, wie jetzt dem nordischen Gaste, <lb n="pvi_1370.020"/> das aber wesentlich <hi rendition="#g">sein</hi> Genuß, <hi rendition="#g">sein</hi> subjectiv Erlebtes ist. Es treten <lb n="pvi_1370.021"/> also eine mehr objectiv epische und eine mehr subjectiv lyrische Form einander <lb n="pvi_1370.022"/> gegenüber. – Das antike Versmaaß der Elegie ist hier beibehalten; im <lb n="pvi_1370.023"/> Allgemeinen folgt übrigens eine Nöthigung hiezu aus dem nicht, was über <lb n="pvi_1370.024"/> dessen Charakter gesagt ist; die modernen Strophenbildungen haben der <lb n="pvi_1370.025"/> absinkenden und austönenden Formen genug, um dem elegischen Stimmungscharakter <lb n="pvi_1370.026"/> seinen Ausdruck zu geben. – Nicht immer ist es leicht, das Elegische <lb n="pvi_1370.027"/> vom Liedartigen zu unterscheiden; wesentlich ist, daß man immer den <lb n="pvi_1370.028"/> betrachtenden Charakter in's Auge fasse, wehmüthiger Ton allein, selbst <lb n="pvi_1370.029"/> ausgedrückter Gedanke wehmüthigen Jnhalts macht noch keine Elegie, wenn <lb n="pvi_1370.030"/> er nur kurz hervorbricht, keine Entwicklung hat. Uhland's „Kapelle“ z. B. <lb n="pvi_1370.031"/> ist ein Lied, keine Elegie.</hi> </p> <lb n="pvi_1370.032"/> <p> <hi rendition="#et"> Es kann Widerspruch erregen, daß wir hier die lyrische Poesie <hi rendition="#g">Jndiens</hi> <lb n="pvi_1370.033"/> aufnehmen. Sie versenkt sich mit berauschter Wonne in eine Natur, deren <lb n="pvi_1370.034"/> Ueppigkeit alle Sinnen umstrickt, in das Entzücken der Liebe, eine seelenvolle <lb n="pvi_1370.035"/> Sinnlichkeit, fern von der tieferen Sammlung, welche dem betrachtenden <lb n="pvi_1370.036"/> Momente, das wir doch in dieser Dicht-Art für so wesentlich halten, <lb n="pvi_1370.037"/> eine Entfaltung zuließe; sie hat in ihrer trunkenen Versenkung einen primitiven <lb n="pvi_1370.038"/> Charakter, wie alles Orientalische, und scheint daher mindestens <lb n="pvi_1370.039"/> vor die classische Elegie gestellt werden zu müssen. Allein in dieser Trunkenheit <lb n="pvi_1370.040"/> wohnt doch eine selige Müde, ein Hinschwinden in die Naturtiefen, <lb n="pvi_1370.041"/> ein süßes Kranksein vor lauter Lust, die in ihrer Schönheit sich badet und </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1370/0232]
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tröstet, die in der Beschäftigung liegt, im zweiten, indem er die wahre Erhebung pvi_1370.002
aus den Enttäuschungen des Lebens im Himmel der Phantasie pvi_1370.003
sucht, den uns die volle Poesie, ohne ihr Geheimniß zu gestehen, durch die pvi_1370.004
That auf die Erde senken soll. Die ächte Elegie schwatzt aber doch nicht pvi_1370.005
so ihr Geheimniß aus, weiß es selbst kaum und ihre Betrachtungen decken pvi_1370.006
in aller Trauer über die Flüchtigkeit des Schönen nicht so ausdrücklich die pvi_1370.007
Kluft auf, welche die ganze und volle Kunst schweigend ausfüllt; das heißt pvi_1370.008
von der Phantasie sprechen, statt in Phantasie thätig sein. Doch wir verdanken pvi_1370.009
Schiller auch wahre Elegieen. Pompeji und Herculanum, der Spaziergang pvi_1370.010
gehören zu den schönsten Erscheinungen dieses Gebiets und führen pvi_1370.011
verglichen mit Göthe's herrlichen römischen Elegien, auf einen Unterschied, pvi_1370.012
den wir noch zu berühren haben. Dort breitet sich das Jdeale in dem pvi_1370.013
Bilde der verschütteten Städte, das wunderbar wieder an den Tag der Gegenwart pvi_1370.014
getreten, in den Landschaftbildern, an denen der Spaziergänger sich pvi_1370.015
fortbewegt, als objectivere Anschauung vor dem betrachtend fühlenden Geist pvi_1370.016
aus; hier blickt der Dichter auf persönliches Glück zurück, das sich wohl pvi_1370.017
wie eine Rose an die Trümmer der großen Vergangenheit der alten Weltstadt pvi_1370.018
schlingt, wo einst Amor, der dem Liebenden die Lampe schürt, seinen pvi_1370.019
Triumvirn denselben Dienst gethan hat, wie jetzt dem nordischen Gaste, pvi_1370.020
das aber wesentlich sein Genuß, sein subjectiv Erlebtes ist. Es treten pvi_1370.021
also eine mehr objectiv epische und eine mehr subjectiv lyrische Form einander pvi_1370.022
gegenüber. – Das antike Versmaaß der Elegie ist hier beibehalten; im pvi_1370.023
Allgemeinen folgt übrigens eine Nöthigung hiezu aus dem nicht, was über pvi_1370.024
dessen Charakter gesagt ist; die modernen Strophenbildungen haben der pvi_1370.025
absinkenden und austönenden Formen genug, um dem elegischen Stimmungscharakter pvi_1370.026
seinen Ausdruck zu geben. – Nicht immer ist es leicht, das Elegische pvi_1370.027
vom Liedartigen zu unterscheiden; wesentlich ist, daß man immer den pvi_1370.028
betrachtenden Charakter in's Auge fasse, wehmüthiger Ton allein, selbst pvi_1370.029
ausgedrückter Gedanke wehmüthigen Jnhalts macht noch keine Elegie, wenn pvi_1370.030
er nur kurz hervorbricht, keine Entwicklung hat. Uhland's „Kapelle“ z. B. pvi_1370.031
ist ein Lied, keine Elegie.
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Es kann Widerspruch erregen, daß wir hier die lyrische Poesie Jndiens pvi_1370.033
aufnehmen. Sie versenkt sich mit berauschter Wonne in eine Natur, deren pvi_1370.034
Ueppigkeit alle Sinnen umstrickt, in das Entzücken der Liebe, eine seelenvolle pvi_1370.035
Sinnlichkeit, fern von der tieferen Sammlung, welche dem betrachtenden pvi_1370.036
Momente, das wir doch in dieser Dicht-Art für so wesentlich halten, pvi_1370.037
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Charakter, wie alles Orientalische, und scheint daher mindestens pvi_1370.039
vor die classische Elegie gestellt werden zu müssen. Allein in dieser Trunkenheit pvi_1370.040
wohnt doch eine selige Müde, ein Hinschwinden in die Naturtiefen, pvi_1370.041
ein süßes Kranksein vor lauter Lust, die in ihrer Schönheit sich badet und
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