Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1372.001 Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der romanischen pvi_1372.025
pvi_1372.001 Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der romanischen pvi_1372.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0234" n="1372"/><lb n="pvi_1372.001"/> Liebesrausche gibt sich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen, <lb n="pvi_1372.002"/> Jasmin, Rosen und Moschus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der <lb n="pvi_1372.003"/> Weltengeist gefallen ist, dem Weine hin, in dessen Feuer das ewige Geheimniß <lb n="pvi_1372.004"/> glüht; er ist aber in dieser Hingebung ganz frei, denn das Welttrunkene <lb n="pvi_1372.005"/> Gemüth ist dasselbe, das sich auch rein geistig mit dem Unendlichen <lb n="pvi_1372.006"/> versöhnt und in der Reinheit dieser Versöhnung nur von jedem Dogma <lb n="pvi_1372.007"/> und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht sich ganz in den Genuß und <lb n="pvi_1372.008"/> schwebt doch frei und heiter über ihm und er spricht mit hellem Bewußtsein <lb n="pvi_1372.009"/> die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall <lb n="pvi_1372.010"/> und in immer neuen Wendungen aus. Diese Form ist daher in aller ungeheuchelten <lb n="pvi_1372.011"/> Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl <lb n="pvi_1372.012"/> selbst löst sich hier besonders sichtbar in die zwei Seiten des Seins in der <lb n="pvi_1372.013"/> Sache und der heiteren Beschauung dieses Seins auf; es ist dieß durchaus <lb n="pvi_1372.014"/> elegisch und man wird auch an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks <lb n="pvi_1372.015"/> oft genug so ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne <lb n="pvi_1372.016"/> des Worts nur thun kann. Diesem Spiele mit der stetigen Wiederkehr <lb n="pvi_1372.017"/> zum mystischen Centrum entspricht das reiche Formenspiel und namentlich <lb n="pvi_1372.018"/> das <hi rendition="#g">Ghasel</hi> mit seinem durchgehenden Reimbande. Jn den einzelnen <lb n="pvi_1372.019"/> Mitteln ist diese Dichtung die vorherrschend bilderreiche; sie bedarf es aber <lb n="pvi_1372.020"/> auch, denn sie dreht sich schließlich doch immer um Eines. Göthe's heiteres <lb n="pvi_1372.021"/> Greisenalter hat in der entsprechenden Stimmung des freien Schwebens <lb n="pvi_1372.022"/> und Betrachtens in diesen Formen gedichtet und sie noch einmal zur Wahrheit <lb n="pvi_1372.023"/> gemacht.</hi> </p> <lb n="pvi_1372.024"/> <p> <hi rendition="#et"> Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der <hi rendition="#g">romanischen</hi> <lb n="pvi_1372.025"/> Völker läßt sich unschwer rechtfertigen. Hier ist eine Welt der Jnnigkeit <lb n="pvi_1372.026"/> aufgegangen, wie sie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der platonische <lb n="pvi_1372.027"/> Jdealismus und die Mystik fließt als Element in den ethisch gesammelten <lb n="pvi_1372.028"/> occidentalischen Geist ein und vereinigt sich mit einem Volksnaturell, <lb n="pvi_1372.029"/> das doch flüssiger, weltlich freier, sinnlich biegsamer ist, als der <lb n="pvi_1372.030"/> noch tiefere, aber weltlosere, härter in sich gedrängte germanische Charakter. <lb n="pvi_1372.031"/> Allein dieser Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenschaft, daß ein <lb n="pvi_1372.032"/> großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um <lb n="pvi_1372.033"/> sich hier als eine Schönheit für sich niederzuschlagen; dieß ist nun natürlich <lb n="pvi_1372.034"/> in der ursprünglichen Art der Stimmung gesetzt und wirkt ebensosehr in der <lb n="pvi_1372.035"/> Ausführung wieder auf sie zurück: die reich verschlungenen Formen des <lb n="pvi_1372.036"/> Sonetts, der Canzone, Terzine, Sestine, der achtzeiligen Stanze, des Trioletts, <lb n="pvi_1372.037"/> Rondeau's, Madrigal's u. s. w. stellen ein Spiel der Verschiebungen <lb n="pvi_1372.038"/> dar wie maurische Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künstlichkeit <lb n="pvi_1372.039"/> dieses Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, sondern wird nothwendig <lb n="pvi_1372.040"/> zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernsten <lb n="pvi_1372.041"/> Sinne des Worts; er schaukelt sich wie ein geschickter Ruderer mit kunstfertigen </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1372/0234]
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Liebesrausche gibt sich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen, pvi_1372.002
Jasmin, Rosen und Moschus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der pvi_1372.003
Weltengeist gefallen ist, dem Weine hin, in dessen Feuer das ewige Geheimniß pvi_1372.004
glüht; er ist aber in dieser Hingebung ganz frei, denn das Welttrunkene pvi_1372.005
Gemüth ist dasselbe, das sich auch rein geistig mit dem Unendlichen pvi_1372.006
versöhnt und in der Reinheit dieser Versöhnung nur von jedem Dogma pvi_1372.007
und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht sich ganz in den Genuß und pvi_1372.008
schwebt doch frei und heiter über ihm und er spricht mit hellem Bewußtsein pvi_1372.009
die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall pvi_1372.010
und in immer neuen Wendungen aus. Diese Form ist daher in aller ungeheuchelten pvi_1372.011
Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl pvi_1372.012
selbst löst sich hier besonders sichtbar in die zwei Seiten des Seins in der pvi_1372.013
Sache und der heiteren Beschauung dieses Seins auf; es ist dieß durchaus pvi_1372.014
elegisch und man wird auch an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks pvi_1372.015
oft genug so ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne pvi_1372.016
des Worts nur thun kann. Diesem Spiele mit der stetigen Wiederkehr pvi_1372.017
zum mystischen Centrum entspricht das reiche Formenspiel und namentlich pvi_1372.018
das Ghasel mit seinem durchgehenden Reimbande. Jn den einzelnen pvi_1372.019
Mitteln ist diese Dichtung die vorherrschend bilderreiche; sie bedarf es aber pvi_1372.020
auch, denn sie dreht sich schließlich doch immer um Eines. Göthe's heiteres pvi_1372.021
Greisenalter hat in der entsprechenden Stimmung des freien Schwebens pvi_1372.022
und Betrachtens in diesen Formen gedichtet und sie noch einmal zur Wahrheit pvi_1372.023
gemacht.
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Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der romanischen pvi_1372.025
Völker läßt sich unschwer rechtfertigen. Hier ist eine Welt der Jnnigkeit pvi_1372.026
aufgegangen, wie sie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der platonische pvi_1372.027
Jdealismus und die Mystik fließt als Element in den ethisch gesammelten pvi_1372.028
occidentalischen Geist ein und vereinigt sich mit einem Volksnaturell, pvi_1372.029
das doch flüssiger, weltlich freier, sinnlich biegsamer ist, als der pvi_1372.030
noch tiefere, aber weltlosere, härter in sich gedrängte germanische Charakter. pvi_1372.031
Allein dieser Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenschaft, daß ein pvi_1372.032
großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um pvi_1372.033
sich hier als eine Schönheit für sich niederzuschlagen; dieß ist nun natürlich pvi_1372.034
in der ursprünglichen Art der Stimmung gesetzt und wirkt ebensosehr in der pvi_1372.035
Ausführung wieder auf sie zurück: die reich verschlungenen Formen des pvi_1372.036
Sonetts, der Canzone, Terzine, Sestine, der achtzeiligen Stanze, des Trioletts, pvi_1372.037
Rondeau's, Madrigal's u. s. w. stellen ein Spiel der Verschiebungen pvi_1372.038
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Sinne des Worts; er schaukelt sich wie ein geschickter Ruderer mit kunstfertigen
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