Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1390.001 1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins, pvi_1390.008 pvi_1390.001 1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins, pvi_1390.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0252" n="1390"/><lb n="pvi_1390.001"/> der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, sondern muß durch Affect <lb n="pvi_1390.002"/> auf die Handlung lebendig überleiten, der <hi rendition="#g">Dialog</hi> darf nicht ein bloßer Austausch <lb n="pvi_1390.003"/> von Gründen oder Gefühlen, sondern muß wechselseitig wirksam sein, <lb n="pvi_1390.004"/> <note place="left">3.</note>etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die <lb n="pvi_1390.005"/> einzelnen poetischen Mittel, namentlich die <hi rendition="#g">Tropen.</hi> Die entsprechende rhythmische <lb n="pvi_1390.006"/> Form ist der steigende, strebende <hi rendition="#g">Jambus.</hi></p> <lb n="pvi_1390.007"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins, <lb n="pvi_1390.008"/> der Substantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatische <lb n="pvi_1390.009"/> im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des <lb n="pvi_1390.010"/> Schicksals aus dem Jnnern. Er ist daher ganz bewegte Linie, die vorwärts <lb n="pvi_1390.011"/> geht, ganz Bahn; spannt sich die Handlung dem Wesen nach von der Gegenwart <lb n="pvi_1390.012"/> nach der Zukunft, so muß sich dieß natürlich auch im Styl ausdrücken: <lb n="pvi_1390.013"/> er muß vor Allem spannend sein. Es gibt freilich einen Mißbrauch, <lb n="pvi_1390.014"/> einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile, <lb n="pvi_1390.015"/> das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, sich zu entwickeln; <lb n="pvi_1390.016"/> die Franzosen besonders neigen zum Uebermaaß der spannenden <lb n="pvi_1390.017"/> Bewegung, aber was am meisten und in Deutschland vor Allem Noth thut, <lb n="pvi_1390.018"/> ist die Warnung vor beschaulichem Weilen und Kleben, und nicht stark <lb n="pvi_1390.019"/> genug kann man unsern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und <lb n="pvi_1390.020"/> daher nicht spannt, ist nicht dramatisch. Die Spannung löst sich von <lb n="pvi_1390.021"/> Stadium zu Stadium in Entscheidungen auf, bis der Schluß die letzte <lb n="pvi_1390.022"/> bringt; auf der Spitze des Messers schwebt die Handlung, ein Schlag, <lb n="pvi_1390.023"/> und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraschung; der <lb n="pvi_1390.024"/> subjective Ausdruck des Aristoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid <lb n="pvi_1390.025"/> erwecke, ist durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten <lb n="pvi_1390.026"/> der Tragödie und in Schauspiel und Komödie auch den der Freude und <lb n="pvi_1390.027"/> der komischen Erschütterung zu ergänzen. Daß sie in der Spannung vorbereitet <lb n="pvi_1390.028"/> ist, schwächt die Ueberraschung nicht. Der Gang ist also in vollem <lb n="pvi_1390.029"/> Gegensatze gegen den epischen ein stoßweiser, das Merkmal des <hi rendition="#g">Plötzlichen,</hi> <lb n="pvi_1390.030"/> was in allem Erhabenen und Komischen liegt, wird zum Styl-Merkmale, <lb n="pvi_1390.031"/> und ebenso stark ist hier unsern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt, <lb n="pvi_1390.032"/> durchschlägt, zündet, ist nicht dramatisch. Der Mißbrauch liegt freilich auch <lb n="pvi_1390.033"/> auf diesem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder <lb n="pvi_1390.034"/> zu viel Schlag und Erschütterung ist das letztere das, was nur am Maaße <lb n="pvi_1390.035"/> sündigt, das erstere am Wesen der Dicht-Art. Göthe hat in allen <lb n="pvi_1390.036"/> seinen Dramen keinen Moment, der so rein und ächt dramatisch wäre, wie <lb n="pvi_1390.037"/> der, wo Alba den Egmont in den Palast reiten, vom Pferde steigen sieht, <lb n="pvi_1390.038"/> und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Jphigenie und Tasso sind unsterbliche <lb n="pvi_1390.039"/> Seelengemälde ohne wahrhaft dramatische Spannung und Ueberraschung. <lb n="pvi_1390.040"/> Schiller dagegen ist überall reich an solchen Momenten, wo alle </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1390/0252]
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der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, sondern muß durch Affect pvi_1390.002
auf die Handlung lebendig überleiten, der Dialog darf nicht ein bloßer Austausch pvi_1390.003
von Gründen oder Gefühlen, sondern muß wechselseitig wirksam sein, pvi_1390.004
etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die pvi_1390.005
einzelnen poetischen Mittel, namentlich die Tropen. Die entsprechende rhythmische pvi_1390.006
Form ist der steigende, strebende Jambus.
3. pvi_1390.007
1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins, pvi_1390.008
der Substantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatische pvi_1390.009
im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des pvi_1390.010
Schicksals aus dem Jnnern. Er ist daher ganz bewegte Linie, die vorwärts pvi_1390.011
geht, ganz Bahn; spannt sich die Handlung dem Wesen nach von der Gegenwart pvi_1390.012
nach der Zukunft, so muß sich dieß natürlich auch im Styl ausdrücken: pvi_1390.013
er muß vor Allem spannend sein. Es gibt freilich einen Mißbrauch, pvi_1390.014
einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile, pvi_1390.015
das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, sich zu entwickeln; pvi_1390.016
die Franzosen besonders neigen zum Uebermaaß der spannenden pvi_1390.017
Bewegung, aber was am meisten und in Deutschland vor Allem Noth thut, pvi_1390.018
ist die Warnung vor beschaulichem Weilen und Kleben, und nicht stark pvi_1390.019
genug kann man unsern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und pvi_1390.020
daher nicht spannt, ist nicht dramatisch. Die Spannung löst sich von pvi_1390.021
Stadium zu Stadium in Entscheidungen auf, bis der Schluß die letzte pvi_1390.022
bringt; auf der Spitze des Messers schwebt die Handlung, ein Schlag, pvi_1390.023
und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraschung; der pvi_1390.024
subjective Ausdruck des Aristoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid pvi_1390.025
erwecke, ist durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten pvi_1390.026
der Tragödie und in Schauspiel und Komödie auch den der Freude und pvi_1390.027
der komischen Erschütterung zu ergänzen. Daß sie in der Spannung vorbereitet pvi_1390.028
ist, schwächt die Ueberraschung nicht. Der Gang ist also in vollem pvi_1390.029
Gegensatze gegen den epischen ein stoßweiser, das Merkmal des Plötzlichen, pvi_1390.030
was in allem Erhabenen und Komischen liegt, wird zum Styl-Merkmale, pvi_1390.031
und ebenso stark ist hier unsern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt, pvi_1390.032
durchschlägt, zündet, ist nicht dramatisch. Der Mißbrauch liegt freilich auch pvi_1390.033
auf diesem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder pvi_1390.034
zu viel Schlag und Erschütterung ist das letztere das, was nur am Maaße pvi_1390.035
sündigt, das erstere am Wesen der Dicht-Art. Göthe hat in allen pvi_1390.036
seinen Dramen keinen Moment, der so rein und ächt dramatisch wäre, wie pvi_1390.037
der, wo Alba den Egmont in den Palast reiten, vom Pferde steigen sieht, pvi_1390.038
und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Jphigenie und Tasso sind unsterbliche pvi_1390.039
Seelengemälde ohne wahrhaft dramatische Spannung und Ueberraschung. pvi_1390.040
Schiller dagegen ist überall reich an solchen Momenten, wo alle
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