Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1391.001 2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im pvi_1391.020
pvi_1391.001 2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im pvi_1391.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0253" n="1391"/><lb n="pvi_1391.001"/> Herzen klopfen, jeder Nerv sich spannt und dann der Blitz der Entscheidung <lb n="pvi_1391.002"/> zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene <lb n="pvi_1391.003"/> der Ermordung Geßler's behandelt, wo wir Tell lauernd wissen, wo – <lb n="pvi_1391.004"/> ein äußerst glückliches Motiv – die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr <lb n="pvi_1391.005"/> gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel steigert und mitten in der harten, <lb n="pvi_1391.006"/> stolzen Rede vom Pfeil durchbohrt sein: „Jch will“ – stöhnend mit dem <lb n="pvi_1391.007"/> Ausruf abbricht: „Gott sei mir gnädig!“ und vom Pferde sinkt. Der <lb n="pvi_1391.008"/> Großmeister aber in ächt dramatischer Spannung und Ueberraschung ist <lb n="pvi_1391.009"/> Shakespeare; wir weisen nur auf die Scene der Ermordung Duncan's im <lb n="pvi_1391.010"/> Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angst befindet sich auf der <lb n="pvi_1391.011"/> Bühne; ihre Worte: „er ist daran“ sind ein Abgrund spannender Bangigkeit, <lb n="pvi_1391.012"/> dann bemerke man das tiefe künstlerische Motiv, daß Makbeth, ehe die <lb n="pvi_1391.013"/> That geschehen ist, noch einmal oben erscheint und fragt, was es gebe; <lb n="pvi_1391.014"/> dieß ist ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen <lb n="pvi_1391.015"/> Schrecken der Gewissensangst durchbohrt sind; endlich tritt jener starr, <lb n="pvi_1391.016"/> stier mit den Worten auf: „ich hab' die That gethan“ und es folgt die <lb n="pvi_1391.017"/> Schilderung ihrer Ausführung und seiner innern Zustände, die eine Unendlichkeit <lb n="pvi_1391.018"/> von Entsetzen in sich schließt.</hi> </p> <lb n="pvi_1391.019"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im <lb n="pvi_1391.020"/> Dramatischen erhält, ist das Geschehen überhaupt, das freilich hier zu einem <lb n="pvi_1391.021"/> intensiven Handeln wird. Es bedarf aber diese Dicht-Art eines epischen <lb n="pvi_1391.022"/> Elements in engerer Bedeutung: dieß ist die Erzählung. Sie ist nöthig, <lb n="pvi_1391.023"/> um Solches, was der Länge der Zeit und der Masse des Stoffs wegen <lb n="pvi_1391.024"/> nicht in gegenwärtiger Handlung dargestellt werden kann, doch vorzubringen, <lb n="pvi_1391.025"/> ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht, <lb n="pvi_1391.026"/> unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtseins eines Zweiten zu zeigen, <lb n="pvi_1391.027"/> ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den grassen stoffartigen Charakter <lb n="pvi_1391.028"/> nehmen, nicht ihn ersparen soll, ja denselben im geistigen Reflexe <lb n="pvi_1391.029"/> vielmehr unendlich steigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epische Element, <lb n="pvi_1391.030"/> in's dramatische versetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren <lb n="pvi_1391.031"/> ergriffen, einen beflügelten, schlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den <lb n="pvi_1391.032"/> Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. s. w. als stehende Form <lb n="pvi_1391.033"/> neben den lyrischen Gesängen in der Tragödie unterschieden und geläufig, <lb n="pvi_1391.034"/> sie haben noch mehr spezifisch epischen Ton und lieben größere Länge, als <lb n="pvi_1391.035"/> die modernen Erzählungen, wo das dramatische Gefühl in diesen Theil <lb n="pvi_1391.036"/> stärker eingedrungen ist. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei <lb n="pvi_1391.037"/> in Göthe's Jphigenie, wo diese das Schicksal ihres Hauses, Orestes die <lb n="pvi_1391.038"/> Ermordung seiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die <lb n="pvi_1391.039"/> rasche Rede in's Präsens übergeht, und man wird den Unterschied erkennen. <lb n="pvi_1391.040"/> Es gibt innerhalb dieses Charakters der dramatischen Erzählung wieder einen <lb n="pvi_1391.041"/> Unterschied des mehr Epischen, mehr Lyrischen und mehr spezifisch Dramatischen; </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1391/0253]
pvi_1391.001
Herzen klopfen, jeder Nerv sich spannt und dann der Blitz der Entscheidung pvi_1391.002
zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene pvi_1391.003
der Ermordung Geßler's behandelt, wo wir Tell lauernd wissen, wo – pvi_1391.004
ein äußerst glückliches Motiv – die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr pvi_1391.005
gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel steigert und mitten in der harten, pvi_1391.006
stolzen Rede vom Pfeil durchbohrt sein: „Jch will“ – stöhnend mit dem pvi_1391.007
Ausruf abbricht: „Gott sei mir gnädig!“ und vom Pferde sinkt. Der pvi_1391.008
Großmeister aber in ächt dramatischer Spannung und Ueberraschung ist pvi_1391.009
Shakespeare; wir weisen nur auf die Scene der Ermordung Duncan's im pvi_1391.010
Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angst befindet sich auf der pvi_1391.011
Bühne; ihre Worte: „er ist daran“ sind ein Abgrund spannender Bangigkeit, pvi_1391.012
dann bemerke man das tiefe künstlerische Motiv, daß Makbeth, ehe die pvi_1391.013
That geschehen ist, noch einmal oben erscheint und fragt, was es gebe; pvi_1391.014
dieß ist ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen pvi_1391.015
Schrecken der Gewissensangst durchbohrt sind; endlich tritt jener starr, pvi_1391.016
stier mit den Worten auf: „ich hab' die That gethan“ und es folgt die pvi_1391.017
Schilderung ihrer Ausführung und seiner innern Zustände, die eine Unendlichkeit pvi_1391.018
von Entsetzen in sich schließt.
pvi_1391.019
2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im pvi_1391.020
Dramatischen erhält, ist das Geschehen überhaupt, das freilich hier zu einem pvi_1391.021
intensiven Handeln wird. Es bedarf aber diese Dicht-Art eines epischen pvi_1391.022
Elements in engerer Bedeutung: dieß ist die Erzählung. Sie ist nöthig, pvi_1391.023
um Solches, was der Länge der Zeit und der Masse des Stoffs wegen pvi_1391.024
nicht in gegenwärtiger Handlung dargestellt werden kann, doch vorzubringen, pvi_1391.025
ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht, pvi_1391.026
unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtseins eines Zweiten zu zeigen, pvi_1391.027
ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den grassen stoffartigen Charakter pvi_1391.028
nehmen, nicht ihn ersparen soll, ja denselben im geistigen Reflexe pvi_1391.029
vielmehr unendlich steigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epische Element, pvi_1391.030
in's dramatische versetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren pvi_1391.031
ergriffen, einen beflügelten, schlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den pvi_1391.032
Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. s. w. als stehende Form pvi_1391.033
neben den lyrischen Gesängen in der Tragödie unterschieden und geläufig, pvi_1391.034
sie haben noch mehr spezifisch epischen Ton und lieben größere Länge, als pvi_1391.035
die modernen Erzählungen, wo das dramatische Gefühl in diesen Theil pvi_1391.036
stärker eingedrungen ist. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei pvi_1391.037
in Göthe's Jphigenie, wo diese das Schicksal ihres Hauses, Orestes die pvi_1391.038
Ermordung seiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die pvi_1391.039
rasche Rede in's Präsens übergeht, und man wird den Unterschied erkennen. pvi_1391.040
Es gibt innerhalb dieses Charakters der dramatischen Erzählung wieder einen pvi_1391.041
Unterschied des mehr Epischen, mehr Lyrischen und mehr spezifisch Dramatischen;
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |