Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1396.001 Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Handlung pvi_1396.027
pvi_1396.001 Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Handlung pvi_1396.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0258" n="1396"/><lb n="pvi_1396.001"/> zu denken sind, und Personen, die im ersten Act als Jünglinge <lb n="pvi_1396.002"/> auftreten, im letzten als graue Greise vorführen. Die Jdealisirung der Zeit <lb n="pvi_1396.003"/> ist, wie alles Schöne, eine Zusammenziehung und derselbe Begriff gilt zunächst <lb n="pvi_1396.004"/> auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos <lb n="pvi_1396.005"/> zieht sich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne <lb n="pvi_1396.006"/> zusammen, die empirische Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo <lb n="pvi_1396.007"/> der höchste Lebens-Jnhalt sich auf den gegenwärtigen schmalen Punct verdichtet, <lb n="pvi_1396.008"/> gar keine Existenz. Allein die Phantasie, von innen heraus arbeitend, <lb n="pvi_1396.009"/> dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus setzend, <lb n="pvi_1396.010"/> kann mit ihren geistigen Schwingen diesen Jnhalt in jedem Moment auf <lb n="pvi_1396.011"/> einen andern Punct des Raums hinübertragen; ist nur der innere Zusammenhang <lb n="pvi_1396.012"/> gerechtfertigt, so mag das Wo durch die mitwirkenden äußern <lb n="pvi_1396.013"/> Motive bestimmt werden. So wird hier die Jdealisirung zum freien Wechsel, <lb n="pvi_1396.014"/> allein der Begriff der Zusammenziehung erhält sich, tritt noch einmal auf. <lb n="pvi_1396.015"/> Willkür im Gebrauche dieser Freiheit ist nämlich ihr selbst im Wege, indem <lb n="pvi_1396.016"/> sie gerade an die empirische Wirklichkeit erinnert, wo sie in idealem Schwung <lb n="pvi_1396.017"/> über sie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechsel des Orts beunruhigt, erinnert <lb n="pvi_1396.018"/> durch diese Unruhe an die prosaische Arbeit der gemeinen Raumüberwindung, <lb n="pvi_1396.019"/> weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Concentration <lb n="pvi_1396.020"/> der Handlung auf einen Punct desselben vergessen sollten, und <lb n="pvi_1396.021"/> wirkt wie eine bunte, naturalistisch behandelte Basis als Piedestal eines <lb n="pvi_1396.022"/> plastischen Monuments. Bekanntlich ist bei Shakespeare der rasche Wechsel <lb n="pvi_1396.023"/> durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entschuldigt und tritt <lb n="pvi_1396.024"/> die unpoetisch ablenkende Wirkung erst ein, wo dieß mit dem Reichthum <lb n="pvi_1396.025"/> unserer scenischen Mittel nachgeahmt wird.</hi> </p> <lb n="pvi_1396.026"/> <p> <hi rendition="#et"> Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Handlung <lb n="pvi_1396.027"/> fest. Die Handlung zerlegt sich in untergeordnete Handlungen, es <lb n="pvi_1396.028"/> geschieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächst die verschiedenen Ereignisse <lb n="pvi_1396.029"/> nebeneinander getrennt herzulaufen scheinen. Jm Wilh. Tell z. B. <lb n="pvi_1396.030"/> wird auf verschiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem <lb n="pvi_1396.031"/> Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. s. w. Die <lb n="pvi_1396.032"/> Einheit muß zeitig diese Fäden zusammenfassen und ihnen ihr bindendes <lb n="pvi_1396.033"/> Centrum geben. Von Beispielen, wie ein Faden sich trennt, das Jnteresse <lb n="pvi_1396.034"/> von der Haupthandlung abzieht und störend nach einer andern wendet, <lb n="pvi_1396.035"/> stehe hier statt vieler die Ausweichung vom heroischen Jnhalt zu einer <lb n="pvi_1396.036"/> Liebesgeschichte und Collision der Leidenschaft im Götz von Berlichingen; <lb n="pvi_1396.037"/> von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1 <lb n="pvi_1396.038"/> ein Beispiel aufgestellt im König Lear. Shakespeare liebt diese Compositionsweise <lb n="pvi_1396.039"/> namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Jneinandergreifen <lb n="pvi_1396.040"/> der einzelnen Handlungen und durch Contraste fest und täuschend die zwei <lb n="pvi_1396.041"/> Bestandtheile, aber doch nur pragmatisch, nicht wahrhaft innerlich; die </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1396/0258]
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zu denken sind, und Personen, die im ersten Act als Jünglinge pvi_1396.002
auftreten, im letzten als graue Greise vorführen. Die Jdealisirung der Zeit pvi_1396.003
ist, wie alles Schöne, eine Zusammenziehung und derselbe Begriff gilt zunächst pvi_1396.004
auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos pvi_1396.005
zieht sich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne pvi_1396.006
zusammen, die empirische Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo pvi_1396.007
der höchste Lebens-Jnhalt sich auf den gegenwärtigen schmalen Punct verdichtet, pvi_1396.008
gar keine Existenz. Allein die Phantasie, von innen heraus arbeitend, pvi_1396.009
dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus setzend, pvi_1396.010
kann mit ihren geistigen Schwingen diesen Jnhalt in jedem Moment auf pvi_1396.011
einen andern Punct des Raums hinübertragen; ist nur der innere Zusammenhang pvi_1396.012
gerechtfertigt, so mag das Wo durch die mitwirkenden äußern pvi_1396.013
Motive bestimmt werden. So wird hier die Jdealisirung zum freien Wechsel, pvi_1396.014
allein der Begriff der Zusammenziehung erhält sich, tritt noch einmal auf. pvi_1396.015
Willkür im Gebrauche dieser Freiheit ist nämlich ihr selbst im Wege, indem pvi_1396.016
sie gerade an die empirische Wirklichkeit erinnert, wo sie in idealem Schwung pvi_1396.017
über sie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechsel des Orts beunruhigt, erinnert pvi_1396.018
durch diese Unruhe an die prosaische Arbeit der gemeinen Raumüberwindung, pvi_1396.019
weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Concentration pvi_1396.020
der Handlung auf einen Punct desselben vergessen sollten, und pvi_1396.021
wirkt wie eine bunte, naturalistisch behandelte Basis als Piedestal eines pvi_1396.022
plastischen Monuments. Bekanntlich ist bei Shakespeare der rasche Wechsel pvi_1396.023
durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entschuldigt und tritt pvi_1396.024
die unpoetisch ablenkende Wirkung erst ein, wo dieß mit dem Reichthum pvi_1396.025
unserer scenischen Mittel nachgeahmt wird.
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Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Handlung pvi_1396.027
fest. Die Handlung zerlegt sich in untergeordnete Handlungen, es pvi_1396.028
geschieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächst die verschiedenen Ereignisse pvi_1396.029
nebeneinander getrennt herzulaufen scheinen. Jm Wilh. Tell z. B. pvi_1396.030
wird auf verschiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem pvi_1396.031
Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. s. w. Die pvi_1396.032
Einheit muß zeitig diese Fäden zusammenfassen und ihnen ihr bindendes pvi_1396.033
Centrum geben. Von Beispielen, wie ein Faden sich trennt, das Jnteresse pvi_1396.034
von der Haupthandlung abzieht und störend nach einer andern wendet, pvi_1396.035
stehe hier statt vieler die Ausweichung vom heroischen Jnhalt zu einer pvi_1396.036
Liebesgeschichte und Collision der Leidenschaft im Götz von Berlichingen; pvi_1396.037
von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1 pvi_1396.038
ein Beispiel aufgestellt im König Lear. Shakespeare liebt diese Compositionsweise pvi_1396.039
namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Jneinandergreifen pvi_1396.040
der einzelnen Handlungen und durch Contraste fest und täuschend die zwei pvi_1396.041
Bestandtheile, aber doch nur pragmatisch, nicht wahrhaft innerlich; die
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