Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1397.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0259" n="1397"/><lb n="pvi_1397.001"/> Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der <lb n="pvi_1397.002"/> gezähmten Keiferinn eine organisch herrschende Einheit aufzuzeigen, werden <lb n="pvi_1397.003"/> gegen das Zugeständniß vertauscht werden müssen, daß der Dichter es im <lb n="pvi_1397.004"/> Lustspiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke <lb n="pvi_1397.005"/> alten Mauerwerks, der so fest ist, daß eher die Steine brechen, als die <lb n="pvi_1397.006"/> Fugen sich lösen lassen, ist aber doch nur Kitt. Es ist überhaupt eine <lb n="pvi_1397.007"/> gewagte Sache, zwei symmetrische Fabeln ohne Störung des Verhältnisses <lb n="pvi_1397.008"/> zwischen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und <lb n="pvi_1397.009"/> die Aufgabe wird nicht leicht wieder so gelöst werden wie im König Lear. <lb n="pvi_1397.010"/> Die einfache, natürliche Composition wird in klarer Unterordnung eine <lb n="pvi_1397.011"/> Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung so gruppiren, <lb n="pvi_1397.012"/> daß dieselben als Verästung ihres Stammes sich leicht zu erkennen geben. <lb n="pvi_1397.013"/> Sie dürfen sich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteristischen <lb n="pvi_1397.014"/> Styles nicht, zur epischen Fülle ausbreiten. Daß in dieser Ausbreitung <lb n="pvi_1397.015"/> vollends das Episodische auf den denkbar engsten Spielraum eingegrenzt <lb n="pvi_1397.016"/> wird, ergibt sich aus dem Grundgesetze straff angezogener Einheit. Es kann <lb n="pvi_1397.017"/> sich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird, <lb n="pvi_1397.018"/> als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheischt, niemals darum, ob <lb n="pvi_1397.019"/> eine Scene sich einschieben dürfe, die diesem Zwecke nicht dient, sie wäre <lb n="pvi_1397.020"/> denn klein und anspruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Absicht <lb n="pvi_1397.021"/> haben, den Typus eines Standes, die Form gewisser Culturzustände zu <lb n="pvi_1397.022"/> einer relativen Selbständigkeit des Bildes zu entwickeln, aber sie sei nach <lb n="pvi_1397.023"/> Anfang und Ende fest eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beispiele <lb n="pvi_1397.024"/> gibt §. 496, Anm. – Zwischen dem Momente der Einheit und Vielheit <lb n="pvi_1397.025"/> liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterschied von Hintergrund <lb n="pvi_1397.026"/> und Vordergrund, den wir schon im epischen Gebiet (§. 870, 2.) <lb n="pvi_1397.027"/> aufgeführt haben und der in seiner Anwendung auf das Drama nicht verwechselt <lb n="pvi_1397.028"/> werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff. <lb n="pvi_1397.029"/> aufgestellt ist, um das Wesen der tragischen Bewegung zu bestimmen. Jetzt <lb n="pvi_1397.030"/> hat er spezifisch künstlerische Bedeutung. Hintergrund ist z. B. in Romeo und <lb n="pvi_1397.031"/> Julie der Zwist der Familien (wesentlich bedeutend als Schooß, woraus <lb n="pvi_1397.032"/> das tragische Geschick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig <lb n="pvi_1397.033"/> ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenstein sind es ebenfalls <lb n="pvi_1397.034"/> die Kriegsverhältnisse, in Wilh. Tell das sich verschwörende, dann <lb n="pvi_1397.035"/> handelnde Volk. Der Hintergrund ist der Boden, worauf die Handlung <lb n="pvi_1397.036"/> vor sich geht, deutet auf das Massenhafte, das breite Weltwesen hinaus; <lb n="pvi_1397.037"/> dieß verhält sich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit <lb n="pvi_1397.038"/> ausgeführt, im Drama soll er nur eben so viel Entwicklung genießen, daß <lb n="pvi_1397.039"/> er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Voraussetzung, begleitende <lb n="pvi_1397.040"/> Erklärung, Atmosphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenstein seinen <lb n="pvi_1397.041"/> „Pulvergeruch“.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1397/0259]
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Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der pvi_1397.002
gezähmten Keiferinn eine organisch herrschende Einheit aufzuzeigen, werden pvi_1397.003
gegen das Zugeständniß vertauscht werden müssen, daß der Dichter es im pvi_1397.004
Lustspiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke pvi_1397.005
alten Mauerwerks, der so fest ist, daß eher die Steine brechen, als die pvi_1397.006
Fugen sich lösen lassen, ist aber doch nur Kitt. Es ist überhaupt eine pvi_1397.007
gewagte Sache, zwei symmetrische Fabeln ohne Störung des Verhältnisses pvi_1397.008
zwischen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und pvi_1397.009
die Aufgabe wird nicht leicht wieder so gelöst werden wie im König Lear. pvi_1397.010
Die einfache, natürliche Composition wird in klarer Unterordnung eine pvi_1397.011
Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung so gruppiren, pvi_1397.012
daß dieselben als Verästung ihres Stammes sich leicht zu erkennen geben. pvi_1397.013
Sie dürfen sich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteristischen pvi_1397.014
Styles nicht, zur epischen Fülle ausbreiten. Daß in dieser Ausbreitung pvi_1397.015
vollends das Episodische auf den denkbar engsten Spielraum eingegrenzt pvi_1397.016
wird, ergibt sich aus dem Grundgesetze straff angezogener Einheit. Es kann pvi_1397.017
sich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird, pvi_1397.018
als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheischt, niemals darum, ob pvi_1397.019
eine Scene sich einschieben dürfe, die diesem Zwecke nicht dient, sie wäre pvi_1397.020
denn klein und anspruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Absicht pvi_1397.021
haben, den Typus eines Standes, die Form gewisser Culturzustände zu pvi_1397.022
einer relativen Selbständigkeit des Bildes zu entwickeln, aber sie sei nach pvi_1397.023
Anfang und Ende fest eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beispiele pvi_1397.024
gibt §. 496, Anm. – Zwischen dem Momente der Einheit und Vielheit pvi_1397.025
liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterschied von Hintergrund pvi_1397.026
und Vordergrund, den wir schon im epischen Gebiet (§. 870, 2.) pvi_1397.027
aufgeführt haben und der in seiner Anwendung auf das Drama nicht verwechselt pvi_1397.028
werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff. pvi_1397.029
aufgestellt ist, um das Wesen der tragischen Bewegung zu bestimmen. Jetzt pvi_1397.030
hat er spezifisch künstlerische Bedeutung. Hintergrund ist z. B. in Romeo und pvi_1397.031
Julie der Zwist der Familien (wesentlich bedeutend als Schooß, woraus pvi_1397.032
das tragische Geschick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig pvi_1397.033
ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenstein sind es ebenfalls pvi_1397.034
die Kriegsverhältnisse, in Wilh. Tell das sich verschwörende, dann pvi_1397.035
handelnde Volk. Der Hintergrund ist der Boden, worauf die Handlung pvi_1397.036
vor sich geht, deutet auf das Massenhafte, das breite Weltwesen hinaus; pvi_1397.037
dieß verhält sich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit pvi_1397.038
ausgeführt, im Drama soll er nur eben so viel Entwicklung genießen, daß pvi_1397.039
er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Voraussetzung, begleitende pvi_1397.040
Erklärung, Atmosphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenstein seinen pvi_1397.041
„Pulvergeruch“.
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