Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1398.001 Die Herrschaft starker Contrastwirkungen neben den milden ergibt pvi_1398.002 pvi_1398.001 Die Herrschaft starker Contrastwirkungen neben den milden ergibt pvi_1398.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0260" n="1398"/> <lb n="pvi_1398.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Herrschaft starker <hi rendition="#g">Contrast</hi>wirkungen neben den milden ergibt <lb n="pvi_1398.002"/> sich aus dem durchschlagenden, stoßweisen Gange des Drama. Sie liegen <lb n="pvi_1398.003"/> theils in den Charakteren, theils in den Handlungen. So steigert Shakespeare <lb n="pvi_1398.004"/> die Schwärze von Makbeth's That durch Duncan's reine Güte, wobei <lb n="pvi_1398.005"/> er den Tadel der Schwäche unterdrückt, welchen seine Quelle, die Chronik, <lb n="pvi_1398.006"/> enthielt, so die Furchtbarkeit des Mords durch den friedlichen Eindruck der <lb n="pvi_1398.007"/> Schwalbennester, der balsamischen Luft, unter welchem Duncan in Makbeth's <lb n="pvi_1398.008"/> Schloß tritt. Strenge <hi rendition="#g">Motivirung</hi> folgt als unverbrüchliche Forderung <lb n="pvi_1398.009"/> daraus, daß der dramatische Dichter seinen Stoff in das straffste Netz der <lb n="pvi_1398.010"/> ethischen Causalität schnüren muß. Dieß scheint mit der Forderung des <lb n="pvi_1398.011"/> stoßweisen Fortschritts, der entscheidenden Ausbrüche, kurz mit dem hier so <lb n="pvi_1398.012"/> stark waltenden Momente der Plötzlichkeit in Widerspruch zu stehen. Allein <lb n="pvi_1398.013"/> wir haben bereits gesagt, daß gründliche Vorbereitung nicht die Ueberraschung <lb n="pvi_1398.014"/> aufhebt. Der Durchbruch einer Summe von Kräften zu einer <lb n="pvi_1398.015"/> starken Wirkung ist immer etwas wirklich Neues, obwohl nur ein reif <lb n="pvi_1398.016"/> gewordenes Maaß dessen, was vorher schon da war. Die Motivirung <lb n="pvi_1398.017"/> muß vor Allem eine innerliche sein, d. h. Pathos und That muß aus dem <lb n="pvi_1398.018"/> Charakter, indem er bestimmte äußere Umstände vermöge seiner ganzen <lb n="pvi_1398.019"/> Organisation zu Triebfedern erhebt, mit innerer Nothwendigkeit fließen. <lb n="pvi_1398.020"/> Schwieriger ist die Frage, wie weit die Motivirung bestimmter Momente <lb n="pvi_1398.021"/> einer Handlung an das Aeußere anknüpfen soll. Göthe erzählt z. B. <lb n="pvi_1398.022"/> (Eckerm. Th. 1, S. 196 ff.), Schiller habe seinen Geßler ohne äußern <lb n="pvi_1398.023"/> Anlaß auf den grausamen Gedanken kommen lassen wollen, daß Tell dem <lb n="pvi_1398.024"/> Kind einen Apfel vom Kopfe schieße, mühsam habe er ihn dahin gebracht, <lb n="pvi_1398.025"/> diesen Gedanken dadurch zu motiviren, daß der Knabe vorher die Geschicklichkeit <lb n="pvi_1398.026"/> des Vaters rühme, einen Apfel vom Baume zu schießen. – Jhre <lb n="pvi_1398.027"/> besondere Wichtigkeit hat die Motivirung auf dem Puncte, wo die Entscheidung <lb n="pvi_1398.028"/> eintritt. Der <hi rendition="#aq">Deus ex machina</hi> war bei den Alten etwas Anderes, <lb n="pvi_1398.029"/> als bei den Neueren. Eingriff einer Gottheit erschien ihnen nicht als etwas <lb n="pvi_1398.030"/> blos Aeußerliches, weil die Gottheit zum Voraus die Persongewordene <lb n="pvi_1398.031"/> sittliche Macht war, welche die neuere Kunst nur in die Menschen selbst <lb n="pvi_1398.032"/> legen und aus ihren Handlungen hervorspringen lassen darf. An die Stelle <lb n="pvi_1398.033"/> der Götter sind in der modernen Poesie Fürsten, fürstliche Handbillets, <lb n="pvi_1398.034"/> Zufälle, Gelegenheiten zu Lebenserrettungen u. dergl. getreten, und solche <lb n="pvi_1398.035"/> Aeußerlichkeit der Motive ist nicht durch einen ethischen Zusammenhang <lb n="pvi_1398.036"/> entschuldigt wie der Eingriff jener Transcendenz. Wie der rechte Dichter <lb n="pvi_1398.037"/> Alles bindet, zeigt nichts besser, als eine Vergleichung bedeutender Dramen <lb n="pvi_1398.038"/> mit der epischen Quelle, wo sie aus solcher geflossen. Man sehe z. B. den <lb n="pvi_1398.039"/> Schluß der Novelle nach, die dem Othello zu Grunde liegt: hier wird <lb n="pvi_1398.040"/> Othello Jahre lang nach der Ermordung der Desdemona von Verwandten <lb n="pvi_1398.041"/> derselben getödtet.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1398/0260]
pvi_1398.001
Die Herrschaft starker Contrastwirkungen neben den milden ergibt pvi_1398.002
sich aus dem durchschlagenden, stoßweisen Gange des Drama. Sie liegen pvi_1398.003
theils in den Charakteren, theils in den Handlungen. So steigert Shakespeare pvi_1398.004
die Schwärze von Makbeth's That durch Duncan's reine Güte, wobei pvi_1398.005
er den Tadel der Schwäche unterdrückt, welchen seine Quelle, die Chronik, pvi_1398.006
enthielt, so die Furchtbarkeit des Mords durch den friedlichen Eindruck der pvi_1398.007
Schwalbennester, der balsamischen Luft, unter welchem Duncan in Makbeth's pvi_1398.008
Schloß tritt. Strenge Motivirung folgt als unverbrüchliche Forderung pvi_1398.009
daraus, daß der dramatische Dichter seinen Stoff in das straffste Netz der pvi_1398.010
ethischen Causalität schnüren muß. Dieß scheint mit der Forderung des pvi_1398.011
stoßweisen Fortschritts, der entscheidenden Ausbrüche, kurz mit dem hier so pvi_1398.012
stark waltenden Momente der Plötzlichkeit in Widerspruch zu stehen. Allein pvi_1398.013
wir haben bereits gesagt, daß gründliche Vorbereitung nicht die Ueberraschung pvi_1398.014
aufhebt. Der Durchbruch einer Summe von Kräften zu einer pvi_1398.015
starken Wirkung ist immer etwas wirklich Neues, obwohl nur ein reif pvi_1398.016
gewordenes Maaß dessen, was vorher schon da war. Die Motivirung pvi_1398.017
muß vor Allem eine innerliche sein, d. h. Pathos und That muß aus dem pvi_1398.018
Charakter, indem er bestimmte äußere Umstände vermöge seiner ganzen pvi_1398.019
Organisation zu Triebfedern erhebt, mit innerer Nothwendigkeit fließen. pvi_1398.020
Schwieriger ist die Frage, wie weit die Motivirung bestimmter Momente pvi_1398.021
einer Handlung an das Aeußere anknüpfen soll. Göthe erzählt z. B. pvi_1398.022
(Eckerm. Th. 1, S. 196 ff.), Schiller habe seinen Geßler ohne äußern pvi_1398.023
Anlaß auf den grausamen Gedanken kommen lassen wollen, daß Tell dem pvi_1398.024
Kind einen Apfel vom Kopfe schieße, mühsam habe er ihn dahin gebracht, pvi_1398.025
diesen Gedanken dadurch zu motiviren, daß der Knabe vorher die Geschicklichkeit pvi_1398.026
des Vaters rühme, einen Apfel vom Baume zu schießen. – Jhre pvi_1398.027
besondere Wichtigkeit hat die Motivirung auf dem Puncte, wo die Entscheidung pvi_1398.028
eintritt. Der Deus ex machina war bei den Alten etwas Anderes, pvi_1398.029
als bei den Neueren. Eingriff einer Gottheit erschien ihnen nicht als etwas pvi_1398.030
blos Aeußerliches, weil die Gottheit zum Voraus die Persongewordene pvi_1398.031
sittliche Macht war, welche die neuere Kunst nur in die Menschen selbst pvi_1398.032
legen und aus ihren Handlungen hervorspringen lassen darf. An die Stelle pvi_1398.033
der Götter sind in der modernen Poesie Fürsten, fürstliche Handbillets, pvi_1398.034
Zufälle, Gelegenheiten zu Lebenserrettungen u. dergl. getreten, und solche pvi_1398.035
Aeußerlichkeit der Motive ist nicht durch einen ethischen Zusammenhang pvi_1398.036
entschuldigt wie der Eingriff jener Transcendenz. Wie der rechte Dichter pvi_1398.037
Alles bindet, zeigt nichts besser, als eine Vergleichung bedeutender Dramen pvi_1398.038
mit der epischen Quelle, wo sie aus solcher geflossen. Man sehe z. B. den pvi_1398.039
Schluß der Novelle nach, die dem Othello zu Grunde liegt: hier wird pvi_1398.040
Othello Jahre lang nach der Ermordung der Desdemona von Verwandten pvi_1398.041
derselben getödtet.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |