Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1399.001 Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine pvi_1399.002 pvi_1399.001 Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine pvi_1399.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0261" n="1399"/> <lb n="pvi_1399.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine <lb n="pvi_1399.002"/> Handlung ist wesentlich ein Kampf und dieser setzt Hindernisse voraus. <lb n="pvi_1399.003"/> Der intensiven Stetigkeit nach hat es also mehr Hemmung, als das Epos. <lb n="pvi_1399.004"/> Dagegen fällt in der Darstellungsform weg, was Göthe die rückwärts <lb n="pvi_1399.005"/> schreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem <lb n="pvi_1399.006"/> Jnhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter sinnlicher Retardationen <lb n="pvi_1399.007"/> auf, wie Seefahrten, Reisen u. s. w., welche im Drama diese Rolle <lb n="pvi_1399.008"/> nicht spielen können; seine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens. <lb n="pvi_1399.009"/> Das Wesentliche ist nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im <lb n="pvi_1399.010"/> Drama unendlich stärker ist, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet <lb n="pvi_1399.011"/> unaufhaltsam vorwärts bis zum Umschwung. Wie treibt es Schlag auf <lb n="pvi_1399.012"/> Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche absolute Gravitation bis zum <lb n="pvi_1399.013"/> Schwindel ist in dieser Bewegung! Hier blicken wir zunächst wieder auf <lb n="pvi_1399.014"/> den Charakter zurück: die Hauptaufgabe ist das Wachsen und Anschwellen <lb n="pvi_1399.015"/> der Leidenschaft und vielleicht das schlagendste Beispiel die Vergiftung von <lb n="pvi_1399.016"/> Othello's Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten: <lb n="pvi_1399.017"/> „ha! das gefällt mir nicht“ ihm den ersten, feinen Gifttropfen einspritzt, <lb n="pvi_1399.018"/> bis zu dem wahnsinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unseligen That, die <lb n="pvi_1399.019"/> aus ihm fließt. Allein es schwillt gegen das Streben, das den positiven <lb n="pvi_1399.020"/> Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was <lb n="pvi_1399.021"/> freilich in solchen Dramen, die auf politischem Boden spielen, sichtbarer vorliegt, <lb n="pvi_1399.022"/> als in diesem Bilde der Leidenschaft, wo der schließliche Gegner die <lb n="pvi_1399.023"/> drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit ist; so im Jul. <lb n="pvi_1399.024"/> Cäsar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenstein; der Held wirft zuerst <lb n="pvi_1399.025"/> die aufsteigenden Hindernisse nieder, dann aber zeigt sich, daß diese in <lb n="pvi_1399.026"/> stetem Druck, wie eine zusammenpressende Maschine, siegreich vorrücken, <lb n="pvi_1399.027"/> wiewohl ihre Organe im Sieg auch sich selbst Leiden bereiten. Es ist also <lb n="pvi_1399.028"/> eine ironische Doppelbewegung. Jm Hamlet hat es der Dichter gewagt, <lb n="pvi_1399.029"/> den Helden selbst als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarsten <lb n="pvi_1399.030"/> Vorwürfen gegen sich selbst zaudernden Charakter zu halten, und die schwere <lb n="pvi_1399.031"/> Aufgabe bewundernswerth so gelöst, daß der anwachsende, durch seine Halbmittel <lb n="pvi_1399.032"/> genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum <lb n="pvi_1399.033"/> ganzen Handeln bringt, wo er schon verloren ist. Eine so unerbittlich fortschreitende <lb n="pvi_1399.034"/> Bewegung fordert ihre <hi rendition="#g">Ruhepuncte,</hi> nur folgt von selbst, <lb n="pvi_1399.035"/> daß diese nach der andern Seite die Wirkung derselben erhöhen; es verhält <lb n="pvi_1399.036"/> sich genau wie mit den <hi rendition="#g">Pausen</hi> im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99): <lb n="pvi_1399.037"/> die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und gespannte Erwartung <lb n="pvi_1399.038"/> sieht vorwärts auf das, was sie vorbereiten; ihre Ruhe verstärkt den Eindruck <lb n="pvi_1399.039"/> der vorhergehenden und folgenden Unruhe, sie gehören also ebensosehr <lb n="pvi_1399.040"/> zu den Contrasten. Ein solcher Ruhepunct ist im Makbeth die in anderem <lb n="pvi_1399.041"/> Zusammenhang schon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß seines </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1399/0261]
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Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine pvi_1399.002
Handlung ist wesentlich ein Kampf und dieser setzt Hindernisse voraus. pvi_1399.003
Der intensiven Stetigkeit nach hat es also mehr Hemmung, als das Epos. pvi_1399.004
Dagegen fällt in der Darstellungsform weg, was Göthe die rückwärts pvi_1399.005
schreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem pvi_1399.006
Jnhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter sinnlicher Retardationen pvi_1399.007
auf, wie Seefahrten, Reisen u. s. w., welche im Drama diese Rolle pvi_1399.008
nicht spielen können; seine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens. pvi_1399.009
Das Wesentliche ist nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im pvi_1399.010
Drama unendlich stärker ist, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet pvi_1399.011
unaufhaltsam vorwärts bis zum Umschwung. Wie treibt es Schlag auf pvi_1399.012
Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche absolute Gravitation bis zum pvi_1399.013
Schwindel ist in dieser Bewegung! Hier blicken wir zunächst wieder auf pvi_1399.014
den Charakter zurück: die Hauptaufgabe ist das Wachsen und Anschwellen pvi_1399.015
der Leidenschaft und vielleicht das schlagendste Beispiel die Vergiftung von pvi_1399.016
Othello's Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten: pvi_1399.017
„ha! das gefällt mir nicht“ ihm den ersten, feinen Gifttropfen einspritzt, pvi_1399.018
bis zu dem wahnsinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unseligen That, die pvi_1399.019
aus ihm fließt. Allein es schwillt gegen das Streben, das den positiven pvi_1399.020
Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was pvi_1399.021
freilich in solchen Dramen, die auf politischem Boden spielen, sichtbarer vorliegt, pvi_1399.022
als in diesem Bilde der Leidenschaft, wo der schließliche Gegner die pvi_1399.023
drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit ist; so im Jul. pvi_1399.024
Cäsar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenstein; der Held wirft zuerst pvi_1399.025
die aufsteigenden Hindernisse nieder, dann aber zeigt sich, daß diese in pvi_1399.026
stetem Druck, wie eine zusammenpressende Maschine, siegreich vorrücken, pvi_1399.027
wiewohl ihre Organe im Sieg auch sich selbst Leiden bereiten. Es ist also pvi_1399.028
eine ironische Doppelbewegung. Jm Hamlet hat es der Dichter gewagt, pvi_1399.029
den Helden selbst als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarsten pvi_1399.030
Vorwürfen gegen sich selbst zaudernden Charakter zu halten, und die schwere pvi_1399.031
Aufgabe bewundernswerth so gelöst, daß der anwachsende, durch seine Halbmittel pvi_1399.032
genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum pvi_1399.033
ganzen Handeln bringt, wo er schon verloren ist. Eine so unerbittlich fortschreitende pvi_1399.034
Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von selbst, pvi_1399.035
daß diese nach der andern Seite die Wirkung derselben erhöhen; es verhält pvi_1399.036
sich genau wie mit den Pausen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99): pvi_1399.037
die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und gespannte Erwartung pvi_1399.038
sieht vorwärts auf das, was sie vorbereiten; ihre Ruhe verstärkt den Eindruck pvi_1399.039
der vorhergehenden und folgenden Unruhe, sie gehören also ebensosehr pvi_1399.040
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Zusammenhang schon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß seines
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