Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1403.001 §. 903. pvi_1403.020Vergleicht man nach diesen Grundzügen das Drama mit dem Epos, so pvi_1403.021 Es ist längst (vergl. §. 533, 2.) vorgesorgt, daß wir nicht in falsche pvi_1403.031
pvi_1403.001 §. 903. pvi_1403.020Vergleicht man nach diesen Grundzügen das Drama mit dem Epos, so pvi_1403.021 Es ist längst (vergl. §. 533, 2.) vorgesorgt, daß wir nicht in falsche pvi_1403.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0265" n="1403"/><lb n="pvi_1403.001"/> Stadien der Geschichte geben, die dem Blick eine große Bahn eröffnen, auf <lb n="pvi_1403.002"/> welcher eine Reihe von Stoffen zu Dramen liegt, die sich wie Aussaat und <lb n="pvi_1403.003"/> Aerndte zu einander verhalten, und der Auflösungsgang des englischen <lb n="pvi_1403.004"/> Feudalstaats ist offenbar ein solches Stadium. Aber es gehört große Kunst <lb n="pvi_1403.005"/> dazu, eine solche Bahn zu durchmessen, ohne in das Massenhafte, Epische <lb n="pvi_1403.006"/> zu verfallen. Es war nicht unmöglich, Heinrich <hi rendition="#aq">IV</hi> und <hi rendition="#aq">V</hi> in Ein selbständiges <lb n="pvi_1403.007"/> Schauspiel zusammenzudrängen und die Abtheilungen Heinrich's <hi rendition="#aq">VI</hi> <lb n="pvi_1403.008"/> in Eine Tragödie. Diese Mitte blieb allerdings auch bei der kunstvollsten <lb n="pvi_1403.009"/> Behandlung dramatisch loser, als die festen Anfangs- und Schluß-Puncte <lb n="pvi_1403.010"/> Richard <hi rendition="#aq">II</hi> und Richard <hi rendition="#aq">III</hi>. – Das aber versteht sich, daß es verkehrt ist, <lb n="pvi_1403.011"/> von der Ansicht ausgehend, ein Cyclus sei eine höhere Composition, nach <lb n="pvi_1403.012"/> der man streben müsse, nach Stoffen dafür umherzusuchen und die Geschichte <lb n="pvi_1403.013"/> abzwingen zu wollen. Bietet sich ein Stadium zu solcher Behandlung dar, <lb n="pvi_1403.014"/> – wie dieß in der Hohenstaufengeschichte offenbar <hi rendition="#g">nicht</hi> der Fall ist, – <lb n="pvi_1403.015"/> so mag es der Dichter versuchen, ob er einen Cyclus ohne Schaden der <lb n="pvi_1403.016"/> Geschlossenheit des einzelnen Dramas, dessen feste Composition immer das <lb n="pvi_1403.017"/> Höhere bleibt, durchzuführen vermag. Wir möchten nur die Möglichkeit <lb n="pvi_1403.018"/> nicht läugnen.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1403.019"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 903.</hi> </p> <lb n="pvi_1403.020"/> <p> Vergleicht man nach diesen Grundzügen das Drama mit dem Epos, so <lb n="pvi_1403.021"/> erhellt, daß es an Jntensität und Einheit gewinnt, was es in Vergleichung mit <lb n="pvi_1403.022"/> diesem an Breite und Fülle verliert. Die milde Gemüthsfreiheit (vergl. §. 869) <lb n="pvi_1403.023"/> ist, gegen die leicht zu pathologischer Wirkung verleitende Unruhe der Spannung <lb n="pvi_1403.024"/> und des stoßweisen, aber geraden Ganges zum dramatischen Ziele gehalten, zunächst <lb n="pvi_1403.025"/> ein unbedingter Vorzug des epischen Dichters. Aber der dichterische Geist <lb n="pvi_1403.026"/> bewährt eine um so höhere Macht, wenn er trotz und in der Aufregung seine <lb n="pvi_1403.027"/> Freiheit behauptet und das Bild des Kampfes zum harmonischen Schlusse führt. <lb n="pvi_1403.028"/> Die reine Einheit des Subjectiven und Objectiven in dem Acte der dramatischen <lb n="pvi_1403.029"/> Phantasie ist unzweifelhaft höher, als die naive Synthese in der epischen Dichtung.</p> <lb n="pvi_1403.030"/> <p> <hi rendition="#et"> Es ist längst (vergl. §. 533, 2.) vorgesorgt, daß wir nicht in falsche <lb n="pvi_1403.031"/> Werthvergleichungen gerathen. Es besteht ein Stufen-Unterschied, aber jeder <lb n="pvi_1403.032"/> Gewinn ist auch Verlust. Das Jnteresse, welches die Frage über das <lb n="pvi_1403.033"/> Werthverhältniß zwischen Epos und Drama seit der Debatte über Göthe <lb n="pvi_1403.034"/> und Schiller und der interessanten Erörterung zwischen den beiden großen <lb n="pvi_1403.035"/> Dichtern selbst (im Briefwechsel Th. 3) gewonnen hat, bestimmt uns, ein <lb n="pvi_1403.036"/> ausdrückliches Wort hierüber, wie am Schlusse der allgemeinen Betrachtung <lb n="pvi_1403.037"/> der epischen Poesie (§. 871), folgen zu lassen. Vom Drama sagt Schiller <lb n="pvi_1403.038"/> (a. a. O. S. 387): „die Handlung bewegt sich vor mir, während ich mich <lb n="pvi_1403.039"/> um die epische selbst bewege und sie gleichsam stille zu stehen scheint; dadurch </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1403/0265]
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Stadien der Geschichte geben, die dem Blick eine große Bahn eröffnen, auf pvi_1403.002
welcher eine Reihe von Stoffen zu Dramen liegt, die sich wie Aussaat und pvi_1403.003
Aerndte zu einander verhalten, und der Auflösungsgang des englischen pvi_1403.004
Feudalstaats ist offenbar ein solches Stadium. Aber es gehört große Kunst pvi_1403.005
dazu, eine solche Bahn zu durchmessen, ohne in das Massenhafte, Epische pvi_1403.006
zu verfallen. Es war nicht unmöglich, Heinrich IV und V in Ein selbständiges pvi_1403.007
Schauspiel zusammenzudrängen und die Abtheilungen Heinrich's VI pvi_1403.008
in Eine Tragödie. Diese Mitte blieb allerdings auch bei der kunstvollsten pvi_1403.009
Behandlung dramatisch loser, als die festen Anfangs- und Schluß-Puncte pvi_1403.010
Richard II und Richard III. – Das aber versteht sich, daß es verkehrt ist, pvi_1403.011
von der Ansicht ausgehend, ein Cyclus sei eine höhere Composition, nach pvi_1403.012
der man streben müsse, nach Stoffen dafür umherzusuchen und die Geschichte pvi_1403.013
abzwingen zu wollen. Bietet sich ein Stadium zu solcher Behandlung dar, pvi_1403.014
– wie dieß in der Hohenstaufengeschichte offenbar nicht der Fall ist, – pvi_1403.015
so mag es der Dichter versuchen, ob er einen Cyclus ohne Schaden der pvi_1403.016
Geschlossenheit des einzelnen Dramas, dessen feste Composition immer das pvi_1403.017
Höhere bleibt, durchzuführen vermag. Wir möchten nur die Möglichkeit pvi_1403.018
nicht läugnen.
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§. 903.
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Vergleicht man nach diesen Grundzügen das Drama mit dem Epos, so pvi_1403.021
erhellt, daß es an Jntensität und Einheit gewinnt, was es in Vergleichung mit pvi_1403.022
diesem an Breite und Fülle verliert. Die milde Gemüthsfreiheit (vergl. §. 869) pvi_1403.023
ist, gegen die leicht zu pathologischer Wirkung verleitende Unruhe der Spannung pvi_1403.024
und des stoßweisen, aber geraden Ganges zum dramatischen Ziele gehalten, zunächst pvi_1403.025
ein unbedingter Vorzug des epischen Dichters. Aber der dichterische Geist pvi_1403.026
bewährt eine um so höhere Macht, wenn er trotz und in der Aufregung seine pvi_1403.027
Freiheit behauptet und das Bild des Kampfes zum harmonischen Schlusse führt. pvi_1403.028
Die reine Einheit des Subjectiven und Objectiven in dem Acte der dramatischen pvi_1403.029
Phantasie ist unzweifelhaft höher, als die naive Synthese in der epischen Dichtung.
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Es ist längst (vergl. §. 533, 2.) vorgesorgt, daß wir nicht in falsche pvi_1403.031
Werthvergleichungen gerathen. Es besteht ein Stufen-Unterschied, aber jeder pvi_1403.032
Gewinn ist auch Verlust. Das Jnteresse, welches die Frage über das pvi_1403.033
Werthverhältniß zwischen Epos und Drama seit der Debatte über Göthe pvi_1403.034
und Schiller und der interessanten Erörterung zwischen den beiden großen pvi_1403.035
Dichtern selbst (im Briefwechsel Th. 3) gewonnen hat, bestimmt uns, ein pvi_1403.036
ausdrückliches Wort hierüber, wie am Schlusse der allgemeinen Betrachtung pvi_1403.037
der epischen Poesie (§. 871), folgen zu lassen. Vom Drama sagt Schiller pvi_1403.038
(a. a. O. S. 387): „die Handlung bewegt sich vor mir, während ich mich pvi_1403.039
um die epische selbst bewege und sie gleichsam stille zu stehen scheint; dadurch
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