Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1417.001 Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und pvi_1417.002 pvi_1417.001 Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und pvi_1417.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0279" n="1417"/> <lb n="pvi_1417.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und <lb n="pvi_1417.002"/> von da aus die vorangehenden Sätze in's Licht stellen. Unsere Aufgabe <lb n="pvi_1417.003"/> ist, wenn nicht die ganze leitende Jdee unserer Lehre von dem Leben der <lb n="pvi_1417.004"/> Kunst unrichtig sein soll, offenbar in das Wort zu fassen: <hi rendition="#g">Shakespeare's <lb n="pvi_1417.005"/> Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken.</hi> <lb n="pvi_1417.006"/> Um diesen Punct oscillirt die neuere dramatische Poesie der Deutschen wie <lb n="pvi_1417.007"/> die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutschen, niederländischen <lb n="pvi_1417.008"/> Styls mit dem Raphaelischen oder überhaupt italienischen. Göthe <lb n="pvi_1417.009"/> nimmt die Wendung zum classicirenden Styl in seinem Egmont; der <lb n="pvi_1417.010"/> naturalistische, charakteristische, in den seine Jugendpoesie sich geworfen, und <lb n="pvi_1417.011"/> der hohe, ideale sind in diesem Drama als zwei nicht wirklich verschmolzene <lb n="pvi_1417.012"/> Elemente merklich zu unterscheiden, wie oft eine Strecke weit die Wasser <lb n="pvi_1417.013"/> zweier vereinigter Flüsse. Von da an vertieft Göthe seine antik gefühlten <lb n="pvi_1417.014"/> Gestalten durch moderne Humanität und deutsches Herz, aber er setzt sie <lb n="pvi_1417.015"/> nicht in die concrete Farbe der wirklichen Jndividualität und Naturwahrheit, <lb n="pvi_1417.016"/> schon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charaktergestalten <lb n="pvi_1417.017"/> sind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont ist in Schiller's <lb n="pvi_1417.018"/> Wallenstein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Piccolomini <lb n="pvi_1417.019"/> und des Schlußstücks der Trilogie, die selbst bis zum behaglichen <lb n="pvi_1417.020"/> Humor charakteristisch sind, in dem tiefen Gefühle, womit Physiognomie <lb n="pvi_1417.021"/> und Stimmung der Zeit erfaßt ist, erkennt man Shakespeare's Geist, aber <lb n="pvi_1417.022"/> im Kothurn des rhetorischen Pathos, in der Jdealität, die in Charakterzeichnung <lb n="pvi_1417.023"/> und einzelner Darstellung doch wieder eine Welt von Zügen der <lb n="pvi_1417.024"/> strengeren geschichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der <lb n="pvi_1417.025"/> Schicksals-Jdee tritt doch mit Uebergewicht die classische Stylisirung hervor. <lb n="pvi_1417.026"/> Von da an halten sich Schiller's Charaktere „in einer Mitte zwischen der <lb n="pvi_1417.027"/> typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, so sagt <lb n="pvi_1417.028"/> Gervinus (Neuere Gesch. d. poet. Nationallit. d. Deutsch. Th. 2, S. 506 <lb n="pvi_1417.029"/> Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort, <lb n="pvi_1417.030"/> das eine so bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derselben, <lb n="pvi_1417.031"/> nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller'sche Charakterwelt ist weit <lb n="pvi_1417.032"/> mehr antik sententiös, rhetorisch und hochpathetisch, als Shakespearisch <lb n="pvi_1417.033"/> naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es sind weit <lb n="pvi_1417.034"/> mehr Typen, als Jndividuen, er generalisirt weit mehr, als er detaillirt. <lb n="pvi_1417.035"/> Seine Schicksals-Jdee behielt immer einen Rest ungelöster Härte, der an <lb n="pvi_1417.036"/> die neidische Macht des altgriechischen Fatums erinnert. Jn der Braut <lb n="pvi_1417.037"/> von Messina nahm er förmlich diesen Begriff auf und gab dadurch den <lb n="pvi_1417.038"/> Anstoß zu den sog. Schicksalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur <lb n="pvi_1417.039"/> in antiker Weise ein Vorausgesetztes, sondern in grasser Trivialität sogar <lb n="pvi_1417.040"/> an ein bestimmtes Datum, an ein bestimmtes sinnlich Einzelnes geknüpft <lb n="pvi_1417.041"/> ist. Von dieser Caricatur fern wollte Schiller ihm seine finstere Majestät </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1417/0279]
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Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und pvi_1417.002
von da aus die vorangehenden Sätze in's Licht stellen. Unsere Aufgabe pvi_1417.003
ist, wenn nicht die ganze leitende Jdee unserer Lehre von dem Leben der pvi_1417.004
Kunst unrichtig sein soll, offenbar in das Wort zu fassen: Shakespeare's pvi_1417.005
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken. pvi_1417.006
Um diesen Punct oscillirt die neuere dramatische Poesie der Deutschen wie pvi_1417.007
die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutschen, niederländischen pvi_1417.008
Styls mit dem Raphaelischen oder überhaupt italienischen. Göthe pvi_1417.009
nimmt die Wendung zum classicirenden Styl in seinem Egmont; der pvi_1417.010
naturalistische, charakteristische, in den seine Jugendpoesie sich geworfen, und pvi_1417.011
der hohe, ideale sind in diesem Drama als zwei nicht wirklich verschmolzene pvi_1417.012
Elemente merklich zu unterscheiden, wie oft eine Strecke weit die Wasser pvi_1417.013
zweier vereinigter Flüsse. Von da an vertieft Göthe seine antik gefühlten pvi_1417.014
Gestalten durch moderne Humanität und deutsches Herz, aber er setzt sie pvi_1417.015
nicht in die concrete Farbe der wirklichen Jndividualität und Naturwahrheit, pvi_1417.016
schon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charaktergestalten pvi_1417.017
sind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont ist in Schiller's pvi_1417.018
Wallenstein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Piccolomini pvi_1417.019
und des Schlußstücks der Trilogie, die selbst bis zum behaglichen pvi_1417.020
Humor charakteristisch sind, in dem tiefen Gefühle, womit Physiognomie pvi_1417.021
und Stimmung der Zeit erfaßt ist, erkennt man Shakespeare's Geist, aber pvi_1417.022
im Kothurn des rhetorischen Pathos, in der Jdealität, die in Charakterzeichnung pvi_1417.023
und einzelner Darstellung doch wieder eine Welt von Zügen der pvi_1417.024
strengeren geschichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der pvi_1417.025
Schicksals-Jdee tritt doch mit Uebergewicht die classische Stylisirung hervor. pvi_1417.026
Von da an halten sich Schiller's Charaktere „in einer Mitte zwischen der pvi_1417.027
typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, so sagt pvi_1417.028
Gervinus (Neuere Gesch. d. poet. Nationallit. d. Deutsch. Th. 2, S. 506 pvi_1417.029
Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort, pvi_1417.030
das eine so bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derselben, pvi_1417.031
nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller'sche Charakterwelt ist weit pvi_1417.032
mehr antik sententiös, rhetorisch und hochpathetisch, als Shakespearisch pvi_1417.033
naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es sind weit pvi_1417.034
mehr Typen, als Jndividuen, er generalisirt weit mehr, als er detaillirt. pvi_1417.035
Seine Schicksals-Jdee behielt immer einen Rest ungelöster Härte, der an pvi_1417.036
die neidische Macht des altgriechischen Fatums erinnert. Jn der Braut pvi_1417.037
von Messina nahm er förmlich diesen Begriff auf und gab dadurch den pvi_1417.038
Anstoß zu den sog. Schicksalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur pvi_1417.039
in antiker Weise ein Vorausgesetztes, sondern in grasser Trivialität sogar pvi_1417.040
an ein bestimmtes Datum, an ein bestimmtes sinnlich Einzelnes geknüpft pvi_1417.041
ist. Von dieser Caricatur fern wollte Schiller ihm seine finstere Majestät
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