Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1423.001 §. 911. pvi_1423.005Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der Seite, pvi_1423.006 Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach pvi_1423.015
pvi_1423.001 §. 911. pvi_1423.005Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der Seite, pvi_1423.006 Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach pvi_1423.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0285" n="1423"/><lb n="pvi_1423.001"/> dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte ausgehen, <lb n="pvi_1423.002"/> der in der vollständig entworfenen Handlung nur einen untergeordneten <lb n="pvi_1423.003"/> Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1423.004"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 911.</hi> </p> <lb n="pvi_1423.005"/> <p> Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der <hi rendition="#g">Seite,</hi> <lb n="pvi_1423.006"/> von welcher der Stoff <hi rendition="#g">aufgefaßt</hi> wird. Der Dichter legt das größere Gewicht <lb n="pvi_1423.007"/> entweder auf den Conflict der ethischen Grundmotive an sich oder auf <lb n="pvi_1423.008"/> das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegensatz von <hi rendition="#g">Prinzipien- <lb n="pvi_1423.009"/> Tragödie</hi> und <hi rendition="#g">Charakter- (Sitten-) Tragödie,</hi> der hiedurch entsteht, <lb n="pvi_1423.010"/> kommt zurück auf die Unterscheidung im Tragischen §. 131 ff. 135 ff. Derselbe <lb n="pvi_1423.011"/> kann jedoch nur ein relativer sein. Die zweite Art theilt sich wieder nach <lb n="pvi_1423.012"/> §. 105 ff. in ein Drama der <hi rendition="#g">Leidenschaft,</hi> namentlich der Liebe, des <hi rendition="#g">bösen</hi> <lb n="pvi_1423.013"/> und des <hi rendition="#g">guten</hi> Willens.</p> <lb n="pvi_1423.014"/> <p> <hi rendition="#et"> Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach <lb n="pvi_1423.015"/> unserer Unterscheidung in der Lehre vom Tragischen die Tragödie des sittlichen <lb n="pvi_1423.016"/> Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der einfachen <lb n="pvi_1423.017"/> Schuld; es ist aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher <lb n="pvi_1423.018"/> bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt sich hier von einer wichtigen <lb n="pvi_1423.019"/> Unterscheidung, die aber durchaus nur relativ sein kann; würde sie absolut <lb n="pvi_1423.020"/> genommen, so wäre entweder der Satz umgestoßen, daß im Drama nicht <lb n="pvi_1423.021"/> der Charakter, sondern die Handlung das Wesentliche ist, oder umgekehrt: <lb n="pvi_1423.022"/> es würden sich Conflicte bekämpfen, die wie Platonische Jdeen als Wesen <lb n="pvi_1423.023"/> für sich in der Luft schwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten, <lb n="pvi_1423.024"/> die nach der Trennung, die in den menschlichen Dingen das ewig Zusammengehörige <lb n="pvi_1423.025"/> erfährt, wirklich unversöhnlich sind, aber die Einseitigkeit der <lb n="pvi_1423.026"/> Trennung muß in schroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität <lb n="pvi_1423.027"/> haben, so daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde allerdings <lb n="pvi_1423.028"/> der Conflict sich schmerzloser lösen, nur fiele dann eben die Kraft der <lb n="pvi_1423.029"/> Einseitigkeit in den Charakteren und die Lösung wäre eine matte, schlaffe. <lb n="pvi_1423.030"/> Die classische Mustertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles, <lb n="pvi_1423.031"/> kann daher allerdings auch so gefaßt werden, daß die Starrheit und Heftigkeit <lb n="pvi_1423.032"/> der beiden Hauptpersonen die Angel der Handlung sei und daß wir <lb n="pvi_1423.033"/> aus dem Schlusse die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben, <lb n="pvi_1423.034"/> aber es ist dieß nicht die <hi rendition="#g">ganze</hi> Erklärung, sondern nur Hervorhebung <lb n="pvi_1423.035"/> ihres einen, <hi rendition="#g">hier</hi> des untergeordneten Moments. So sind in Shakespeare's <lb n="pvi_1423.036"/> Jul. Cäsar die Charaktere typisch einfacher, als in irgend einem <lb n="pvi_1423.037"/> andern Drama Shakespeare's, schlicht erhabene Träger der sich bekämpfenden <lb n="pvi_1423.038"/> Jdeen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf diese, aber der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1423/0285]
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dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte ausgehen, pvi_1423.002
der in der vollständig entworfenen Handlung nur einen untergeordneten pvi_1423.003
Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.
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§. 911.
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Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der Seite, pvi_1423.006
von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Gewicht pvi_1423.007
entweder auf den Conflict der ethischen Grundmotive an sich oder auf pvi_1423.008
das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegensatz von Prinzipien- pvi_1423.009
Tragödie und Charakter- (Sitten-) Tragödie, der hiedurch entsteht, pvi_1423.010
kommt zurück auf die Unterscheidung im Tragischen §. 131 ff. 135 ff. Derselbe pvi_1423.011
kann jedoch nur ein relativer sein. Die zweite Art theilt sich wieder nach pvi_1423.012
§. 105 ff. in ein Drama der Leidenschaft, namentlich der Liebe, des bösen pvi_1423.013
und des guten Willens.
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Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach pvi_1423.015
unserer Unterscheidung in der Lehre vom Tragischen die Tragödie des sittlichen pvi_1423.016
Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der einfachen pvi_1423.017
Schuld; es ist aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher pvi_1423.018
bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt sich hier von einer wichtigen pvi_1423.019
Unterscheidung, die aber durchaus nur relativ sein kann; würde sie absolut pvi_1423.020
genommen, so wäre entweder der Satz umgestoßen, daß im Drama nicht pvi_1423.021
der Charakter, sondern die Handlung das Wesentliche ist, oder umgekehrt: pvi_1423.022
es würden sich Conflicte bekämpfen, die wie Platonische Jdeen als Wesen pvi_1423.023
für sich in der Luft schwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten, pvi_1423.024
die nach der Trennung, die in den menschlichen Dingen das ewig Zusammengehörige pvi_1423.025
erfährt, wirklich unversöhnlich sind, aber die Einseitigkeit der pvi_1423.026
Trennung muß in schroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität pvi_1423.027
haben, so daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde allerdings pvi_1423.028
der Conflict sich schmerzloser lösen, nur fiele dann eben die Kraft der pvi_1423.029
Einseitigkeit in den Charakteren und die Lösung wäre eine matte, schlaffe. pvi_1423.030
Die classische Mustertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles, pvi_1423.031
kann daher allerdings auch so gefaßt werden, daß die Starrheit und Heftigkeit pvi_1423.032
der beiden Hauptpersonen die Angel der Handlung sei und daß wir pvi_1423.033
aus dem Schlusse die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben, pvi_1423.034
aber es ist dieß nicht die ganze Erklärung, sondern nur Hervorhebung pvi_1423.035
ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So sind in Shakespeare's pvi_1423.036
Jul. Cäsar die Charaktere typisch einfacher, als in irgend einem pvi_1423.037
andern Drama Shakespeare's, schlicht erhabene Träger der sich bekämpfenden pvi_1423.038
Jdeen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf diese, aber der
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