Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1424.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0286" n="1424"/><lb n="pvi_1424.001"/> Jdeenkampf ist doch wesentlich lebendiger Personenkampf. Der Charaktertragödie <lb n="pvi_1424.002"/> darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt <lb n="pvi_1424.003"/> ist, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach <lb n="pvi_1424.004"/> der Auffassung von Gervinus, der das tragische Ende durchaus nur aus <lb n="pvi_1424.005"/> dem Uebersturz heftiger Leidenschaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.), <lb n="pvi_1424.006"/> gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, sondern auch nur eine solche, <lb n="pvi_1424.007"/> die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung, <lb n="pvi_1424.008"/> die als ein abstracter Satz der Moral nie einen großen poetischen Jnhalt <lb n="pvi_1424.009"/> begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit <lb n="pvi_1424.010"/> Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber besonnen, so wäre er kein liebender <lb n="pvi_1424.011"/> Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen <lb n="pvi_1424.012"/> Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargestellt; ein andermal mag man bedenken, <lb n="pvi_1424.013"/> daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rücksichten, Pflichten; <lb n="pvi_1424.014"/> hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß sie absolut <lb n="pvi_1424.015"/> dastehen, eine ideale Leidenschaft; die Welt außer ihr besteht auch jetzt <lb n="pvi_1424.016"/> und es wäre Pflicht des Liebenden, sie nüchterner zu berücksichtigen; es ist <lb n="pvi_1424.017"/> Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in rascher Uebereilung unterläßt; in <lb n="pvi_1424.018"/> dieses Zwielicht mitten hinein stellt sich die Tragödie. Alles aus der bloßen <lb n="pvi_1424.019"/> Jndividualität und der Natur des menschlichen Herzens entwickeln heißt <lb n="pvi_1424.020"/> der Tragödie sowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete <lb n="pvi_1424.021"/> nehmen. Selbst wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der <lb n="pvi_1424.022"/> Dichter zeigen, einem geschichtlichen Gesetze, selbst ein Richard <hi rendition="#aq">III</hi> ist Werkzeug <lb n="pvi_1424.023"/> eines solchen, Makbeth's mörderischer Ehrgeiz ist Verkehrung des moralischen <lb n="pvi_1424.024"/> Anrechts heroischer Größe und hohen Geistes an die Krone und <lb n="pvi_1424.025"/> Wallenstein führt den Anspruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte <lb n="pvi_1424.026"/> Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiserlichen Macht, das aber durch <lb n="pvi_1424.027"/> kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden ist. Kurz, das <lb n="pvi_1424.028"/> Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der <lb n="pvi_1424.029"/> Behandlung kann aber mehr auf diese oder mehr auf das subjective Leben <lb n="pvi_1424.030"/> des Pathos im Charakter fallen. Jm letzteren Falle wird allerdings immer <lb n="pvi_1424.031"/> die Spannung gegenüberstehender Rechte weniger nothwendig und unvermeidlich <lb n="pvi_1424.032"/> erscheinen, und dieß ist es, was in §. 131 ff. das Tragische der <lb n="pvi_1424.033"/> einfachen Schuld heißt. – Die Charaktertragödie nun wird mehr oder <lb n="pvi_1424.034"/> weniger von der strafferen Zusammenfassung eines Pathos in der energievollen <lb n="pvi_1424.035"/> Hauptgestalt hinausweisen auf die sittlichen Gesammtzustände gesellschaftlicher <lb n="pvi_1424.036"/> Kreise; je mehr dieß der Fall ist, desto mehr wird das Charakterdrama <lb n="pvi_1424.037"/> zum Sittenbilde. Dieß geschieht im edelsten und höchsten Sinne, <lb n="pvi_1424.038"/> wenn das Gewicht auf das Bestehen und Wachsen der reinsten Humanität <lb n="pvi_1424.039"/> gelegt wird wie in Göthe's idealen Sittengemälden Jphigenie und Tasso; <lb n="pvi_1424.040"/> das tragische Schicksal geistiger Naturen, wie Philosophen, Künstler, Dichter, <lb n="pvi_1424.041"/> gehört in dieses rein menschliche Gebiet, doch nehmen wir unser Bedenken </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1424/0286]
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Jdeenkampf ist doch wesentlich lebendiger Personenkampf. Der Charaktertragödie pvi_1424.002
darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt pvi_1424.003
ist, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach pvi_1424.004
der Auffassung von Gervinus, der das tragische Ende durchaus nur aus pvi_1424.005
dem Uebersturz heftiger Leidenschaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.), pvi_1424.006
gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, sondern auch nur eine solche, pvi_1424.007
die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung, pvi_1424.008
die als ein abstracter Satz der Moral nie einen großen poetischen Jnhalt pvi_1424.009
begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit pvi_1424.010
Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber besonnen, so wäre er kein liebender pvi_1424.011
Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen pvi_1424.012
Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargestellt; ein andermal mag man bedenken, pvi_1424.013
daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rücksichten, Pflichten; pvi_1424.014
hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß sie absolut pvi_1424.015
dastehen, eine ideale Leidenschaft; die Welt außer ihr besteht auch jetzt pvi_1424.016
und es wäre Pflicht des Liebenden, sie nüchterner zu berücksichtigen; es ist pvi_1424.017
Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in rascher Uebereilung unterläßt; in pvi_1424.018
dieses Zwielicht mitten hinein stellt sich die Tragödie. Alles aus der bloßen pvi_1424.019
Jndividualität und der Natur des menschlichen Herzens entwickeln heißt pvi_1424.020
der Tragödie sowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete pvi_1424.021
nehmen. Selbst wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der pvi_1424.022
Dichter zeigen, einem geschichtlichen Gesetze, selbst ein Richard III ist Werkzeug pvi_1424.023
eines solchen, Makbeth's mörderischer Ehrgeiz ist Verkehrung des moralischen pvi_1424.024
Anrechts heroischer Größe und hohen Geistes an die Krone und pvi_1424.025
Wallenstein führt den Anspruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte pvi_1424.026
Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiserlichen Macht, das aber durch pvi_1424.027
kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden ist. Kurz, das pvi_1424.028
Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der pvi_1424.029
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des Pathos im Charakter fallen. Jm letzteren Falle wird allerdings immer pvi_1424.031
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einfachen Schuld heißt. – Die Charaktertragödie nun wird mehr oder pvi_1424.034
weniger von der strafferen Zusammenfassung eines Pathos in der energievollen pvi_1424.035
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Kreise; je mehr dieß der Fall ist, desto mehr wird das Charakterdrama pvi_1424.037
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das tragische Schicksal geistiger Naturen, wie Philosophen, Künstler, Dichter, pvi_1424.041
gehört in dieses rein menschliche Gebiet, doch nehmen wir unser Bedenken
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