Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1425.001 Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen pvi_1425.040
pvi_1425.001 Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen pvi_1425.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0287" n="1425"/><lb n="pvi_1425.001"/> gegen solche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem holländischen <lb n="pvi_1425.002"/> Genregemälde ähnlich, eine schwunglose Darstellung des Familien= <lb n="pvi_1425.003"/> und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Lessingisch-Jfflandischen <lb n="pvi_1425.004"/> Zeit. Man könnte diese sittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach <lb n="pvi_1425.005"/> Aristoteles (Poetik C. 18) die ethische nennen, wiewohl er nicht ganz denselben <lb n="pvi_1425.006"/> Begriff mit dem Worte verbindet, sondern mehr ein Gemälde passiver <lb n="pvi_1425.007"/> Seelenzustände im Auge hat gegenüber der starken, heroischen Leidenschaft, <lb n="pvi_1425.008"/> die den Jnhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetische nennt. <lb n="pvi_1425.009"/> Was wir unter Charakter im stricten Sinne des Wortes verstehen, ist allerdings <lb n="pvi_1425.010"/> auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es ist ein moderner Begriff. <lb n="pvi_1425.011"/> – Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus <lb n="pvi_1425.012"/> dem ersten Theile die dort unterschiedenen Formen des subjectiv Erhabenen <lb n="pvi_1425.013"/> herauf. Demnach wäre die erste Form die Tragödie der <hi rendition="#g">Leidenschaft.</hi> <lb n="pvi_1425.014"/> Sie unterscheidet sich von den andern dadurch, daß die Leidenschaft mit reifem <lb n="pvi_1425.015"/> und geschlossenem Charakter zwar zusammentreffen kann, aber nicht muß. <lb n="pvi_1425.016"/> Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß <lb n="pvi_1425.017"/> im Wesen des modernen Jdeals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen, <lb n="pvi_1425.018"/> die noch nicht zum Charakter geschmiedet sein können, das Pathos der verletzten <lb n="pvi_1425.019"/> Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigenschaften, <lb n="pvi_1425.020"/> aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen <lb n="pvi_1425.021"/> vergiftet die Eifersucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen <lb n="pvi_1425.022"/> Reife gelangt ist. Die Tragödie der Leidenschaft wird häufig zugleich Sittenbild <lb n="pvi_1425.023"/> im kräftigsten Sinne des Worts; so sehen wir im König Lear eine <lb n="pvi_1425.024"/> ganze Generation entartet. Die Tragödie des <hi rendition="#g">Bösen</hi> hat Shakespeare <lb n="pvi_1425.025"/> geschaffen; was auch immer nach ihm in dieser Richtung noch entstanden <lb n="pvi_1425.026"/> ist oder entstehen mag: Richard <hi rendition="#aq">III</hi> und Makbeth (der aber noch <lb n="pvi_1425.027"/> andere Seiten hat, die in andern Zusammenhang gehören,) sind einzelne <lb n="pvi_1425.028"/> Werke, die den absoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die <lb n="pvi_1425.029"/> Tragödie des Bösen und der Leidenschaft sich naturgemäß verbindet, zeigt <lb n="pvi_1425.030"/> Othello und Lear. Die Tragödie des <hi rendition="#g">guten</hi> Willens ist natürlich nicht <lb n="pvi_1425.031"/> ein Bild der fleckenlosen Tugend, sondern des edlen Strebens und Wirkens <lb n="pvi_1425.032"/> mit Schuld, wenigstens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe's Jphigenie <lb n="pvi_1425.033"/> gegen die Versuchung zur Lüge und zum Undank besteht. Diese <lb n="pvi_1425.034"/> Gattung ist jedoch in der ächten Poesie schwach vertreten, weil es sehr <lb n="pvi_1425.035"/> schwer ist, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu entziehen, <lb n="pvi_1425.036"/> den das Tragische fordert, und sehr leicht, in ein Gemälde der platten <lb n="pvi_1425.037"/> Rechtschaffenheit und das falsche Bild des Tragischen zu verfallen, wie dieß <lb n="pvi_1425.038"/> im bürgerlich rührenden Schauspiele der Fall war.</hi> </p> <lb n="pvi_1425.039"/> <p> <hi rendition="#et"> Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen <lb n="pvi_1425.040"/> sei, nämlich eine Tragödie des <hi rendition="#g">Bewußtseins.</hi> Jm Makbeth fällt schließlich <lb n="pvi_1425.041"/> das stärkste Gewicht auf das <hi rendition="#g">Gewissen,</hi> seine Phänomene, Bewegungen, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1425/0287]
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gegen solche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem holländischen pvi_1425.002
Genregemälde ähnlich, eine schwunglose Darstellung des Familien= pvi_1425.003
und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Lessingisch-Jfflandischen pvi_1425.004
Zeit. Man könnte diese sittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach pvi_1425.005
Aristoteles (Poetik C. 18) die ethische nennen, wiewohl er nicht ganz denselben pvi_1425.006
Begriff mit dem Worte verbindet, sondern mehr ein Gemälde passiver pvi_1425.007
Seelenzustände im Auge hat gegenüber der starken, heroischen Leidenschaft, pvi_1425.008
die den Jnhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetische nennt. pvi_1425.009
Was wir unter Charakter im stricten Sinne des Wortes verstehen, ist allerdings pvi_1425.010
auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es ist ein moderner Begriff. pvi_1425.011
– Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus pvi_1425.012
dem ersten Theile die dort unterschiedenen Formen des subjectiv Erhabenen pvi_1425.013
herauf. Demnach wäre die erste Form die Tragödie der Leidenschaft. pvi_1425.014
Sie unterscheidet sich von den andern dadurch, daß die Leidenschaft mit reifem pvi_1425.015
und geschlossenem Charakter zwar zusammentreffen kann, aber nicht muß. pvi_1425.016
Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß pvi_1425.017
im Wesen des modernen Jdeals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen, pvi_1425.018
die noch nicht zum Charakter geschmiedet sein können, das Pathos der verletzten pvi_1425.019
Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigenschaften, pvi_1425.020
aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen pvi_1425.021
vergiftet die Eifersucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen pvi_1425.022
Reife gelangt ist. Die Tragödie der Leidenschaft wird häufig zugleich Sittenbild pvi_1425.023
im kräftigsten Sinne des Worts; so sehen wir im König Lear eine pvi_1425.024
ganze Generation entartet. Die Tragödie des Bösen hat Shakespeare pvi_1425.025
geschaffen; was auch immer nach ihm in dieser Richtung noch entstanden pvi_1425.026
ist oder entstehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch pvi_1425.027
andere Seiten hat, die in andern Zusammenhang gehören,) sind einzelne pvi_1425.028
Werke, die den absoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die pvi_1425.029
Tragödie des Bösen und der Leidenschaft sich naturgemäß verbindet, zeigt pvi_1425.030
Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens ist natürlich nicht pvi_1425.031
ein Bild der fleckenlosen Tugend, sondern des edlen Strebens und Wirkens pvi_1425.032
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gegen die Versuchung zur Lüge und zum Undank besteht. Diese pvi_1425.034
Gattung ist jedoch in der ächten Poesie schwach vertreten, weil es sehr pvi_1425.035
schwer ist, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu entziehen, pvi_1425.036
den das Tragische fordert, und sehr leicht, in ein Gemälde der platten pvi_1425.037
Rechtschaffenheit und das falsche Bild des Tragischen zu verfallen, wie dieß pvi_1425.038
im bürgerlich rührenden Schauspiele der Fall war.
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Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen pvi_1425.040
sei, nämlich eine Tragödie des Bewußtseins. Jm Makbeth fällt schließlich pvi_1425.041
das stärkste Gewicht auf das Gewissen, seine Phänomene, Bewegungen,
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