Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1426.001 Wir haben die neuere Schicksalstragödie als eine Verirrung erwähnt. pvi_1426.011 §. 912. pvi_1426.028Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß pvi_1426.029 Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien= pvi_1426.038
pvi_1426.001 Wir haben die neuere Schicksalstragödie als eine Verirrung erwähnt. pvi_1426.011 §. 912. pvi_1426.028Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß pvi_1426.029 Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien= pvi_1426.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0288" n="1426"/><lb n="pvi_1426.001"/> Geschichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion, <lb n="pvi_1426.002"/> die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es ist aber bedenklich, <lb n="pvi_1426.003"/> eine eigene Classe solchen Jnhalts einzuführen; man kann nur sagen: es <lb n="pvi_1426.004"/> gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent so eben aus der Handlung <lb n="pvi_1426.005"/> und dem Thatsächlichen sich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe <lb n="pvi_1426.006"/> legt; wo aber diese zum ganzen Jnhalt werden, da sind sie theoretisch und <lb n="pvi_1426.007"/> solche Werke, wie Göthe's Faust, behalten ihren unendlichen Werth, sind <lb n="pvi_1426.008"/> aber schwebende Formen, die zu wenig Handlung und festen Körper haben, <lb n="pvi_1426.009"/> um eigentliche Dramen genannt zu werden.</hi> </p> <lb n="pvi_1426.010"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir haben die neuere <hi rendition="#g">Schicksalstragödie</hi> als eine Verirrung erwähnt. <lb n="pvi_1426.011"/> Jst es aber nicht logisch gefordert, daß auch eine Form unterschieden <lb n="pvi_1426.012"/> werde, die diesen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite <lb n="pvi_1426.013"/> der Auffassung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charaktertragödie <lb n="pvi_1426.014"/> unterschieden wird, so scheint ein dritter Fall übersehen, wo das <lb n="pvi_1426.015"/> Hauptgewicht auf den tragischen Gang der Handlung fällt. Die Alten <lb n="pvi_1426.016"/> hatten eine solche Gattung; Aristoteles (a. a. O.) nennt sie die verwickelte <lb n="pvi_1426.017"/> und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umschwung <lb n="pvi_1426.018"/> bestehe. Der König Oedipus ist das reinste Bild derselben. Allein dieselbe <lb n="pvi_1426.019"/> kann nur in der Poesie des classischen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen, <lb n="pvi_1426.020"/> weil nur diese ein vorausgesetztes, neidisch auflauerndes, nicht aus den Handlungen <lb n="pvi_1426.021"/> der Menschen sich entwickelndes Schicksal kennt. Was den Griechen <lb n="pvi_1426.022"/> normal war, ist uns abnorm, daher ist eine moderne Schicksals-Tragödie eine <lb n="pvi_1426.023"/> schlechte Tragödie. Anders verhält es sich, wie wir sehen werden, in der <lb n="pvi_1426.024"/> Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schlusse <lb n="pvi_1426.025"/> so das Uebergewicht über das komische Pathos und die Charaktere haben, <lb n="pvi_1426.026"/> daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen ist.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1426.027"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 912.</hi> </p> <lb n="pvi_1426.028"/> <p> Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß <lb n="pvi_1426.029"/> am bestimmtesten der historisch politische Schauplatz die Bedingung zu der Prinzipien-Tragödie <lb n="pvi_1426.030"/> enthält, wogegen der sagenhaft heroische und der bürgerliche, <lb n="pvi_1426.031"/> das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch <lb n="pvi_1426.032"/> beides keineswegs ausschließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte <lb n="pvi_1426.033"/> tiefer und allgemeiner Art auf, welche die soziale Prinzipientragödie begründen, <lb n="pvi_1426.034"/> im historisch politischen kann sich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden <lb n="pvi_1426.035"/> und das sagenhaft heroische lädt zu einem gewissen Gleichgewichte von Prinzipien- <lb n="pvi_1426.036"/> und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.</p> <lb n="pvi_1426.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien= <lb n="pvi_1426.038"/> Tragödie führt, bedarf keines Beweises; dagegen arbeitet die umbildende </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1426/0288]
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Geschichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion, pvi_1426.002
die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es ist aber bedenklich, pvi_1426.003
eine eigene Classe solchen Jnhalts einzuführen; man kann nur sagen: es pvi_1426.004
gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent so eben aus der Handlung pvi_1426.005
und dem Thatsächlichen sich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe pvi_1426.006
legt; wo aber diese zum ganzen Jnhalt werden, da sind sie theoretisch und pvi_1426.007
solche Werke, wie Göthe's Faust, behalten ihren unendlichen Werth, sind pvi_1426.008
aber schwebende Formen, die zu wenig Handlung und festen Körper haben, pvi_1426.009
um eigentliche Dramen genannt zu werden.
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Wir haben die neuere Schicksalstragödie als eine Verirrung erwähnt. pvi_1426.011
Jst es aber nicht logisch gefordert, daß auch eine Form unterschieden pvi_1426.012
werde, die diesen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite pvi_1426.013
der Auffassung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charaktertragödie pvi_1426.014
unterschieden wird, so scheint ein dritter Fall übersehen, wo das pvi_1426.015
Hauptgewicht auf den tragischen Gang der Handlung fällt. Die Alten pvi_1426.016
hatten eine solche Gattung; Aristoteles (a. a. O.) nennt sie die verwickelte pvi_1426.017
und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umschwung pvi_1426.018
bestehe. Der König Oedipus ist das reinste Bild derselben. Allein dieselbe pvi_1426.019
kann nur in der Poesie des classischen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen, pvi_1426.020
weil nur diese ein vorausgesetztes, neidisch auflauerndes, nicht aus den Handlungen pvi_1426.021
der Menschen sich entwickelndes Schicksal kennt. Was den Griechen pvi_1426.022
normal war, ist uns abnorm, daher ist eine moderne Schicksals-Tragödie eine pvi_1426.023
schlechte Tragödie. Anders verhält es sich, wie wir sehen werden, in der pvi_1426.024
Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schlusse pvi_1426.025
so das Uebergewicht über das komische Pathos und die Charaktere haben, pvi_1426.026
daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen ist.
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§. 912.
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Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß pvi_1426.029
am bestimmtesten der historisch politische Schauplatz die Bedingung zu der Prinzipien-Tragödie pvi_1426.030
enthält, wogegen der sagenhaft heroische und der bürgerliche, pvi_1426.031
das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch pvi_1426.032
beides keineswegs ausschließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte pvi_1426.033
tiefer und allgemeiner Art auf, welche die soziale Prinzipientragödie begründen, pvi_1426.034
im historisch politischen kann sich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden pvi_1426.035
und das sagenhaft heroische lädt zu einem gewissen Gleichgewichte von Prinzipien- pvi_1426.036
und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.
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Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien= pvi_1426.038
Tragödie führt, bedarf keines Beweises; dagegen arbeitet die umbildende
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