Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1427.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0289" n="1427"/><lb n="pvi_1427.001"/> Sage aus den Ereignissen und Thaten eines noch unbefestigten öffentlichen <lb n="pvi_1427.002"/> Lebens das allgemein Menschliche heraus; es ist in den classischen Tragödien, <lb n="pvi_1427.003"/> im Lear, Makbeth, Hamlet nicht gleichgültig, daß es sich um Heroen, <lb n="pvi_1427.004"/> Fürsten, Völker, Staaten handelt, das menschliche Pathos gewinnt andere <lb n="pvi_1427.005"/> Bedeutung auf dieser monumentalen Höhe, aber den Mittelpunct bildet <lb n="pvi_1427.006"/> doch nicht ein Kampf zwischen einer bestehenden politischen Ordnung und <lb n="pvi_1427.007"/> einer Jdee, die sie zu stürzen, organisch umzugestalten strebt, sondern Charakter, <lb n="pvi_1427.008"/> Grundempfindungen des menschlichen Lebens, innere Zustände des <lb n="pvi_1427.009"/> Gemüths, Sitten. Die Stoffe der bürgerlichen Gesellschaft haben wir <lb n="pvi_1427.010"/> in §. 910, Anm. von denen des Privatlebens dadurch unterschieden, <lb n="pvi_1427.011"/> daß sie soziale Fragen enthalten. Doch führt dieß noch nicht unmittelbar <lb n="pvi_1427.012"/> zu der Prinzipientragödie; auch so kann der Nachdruck auf Leidenschaft und <lb n="pvi_1427.013"/> Charakter liegen, und daß ebendieß der Sphäre des engeren Privatlebens <lb n="pvi_1427.014"/> natürlich ist, erhellt von selbst. Allein diese Sätze gelten keineswegs unbedingt. <lb n="pvi_1427.015"/> Daß der historisch politische Schauplatz je nach seiner Beschaffenheit <lb n="pvi_1427.016"/> auch zur Charakter-Tragödie führt, beweist Shakespeare's Coriolan, Antonius <lb n="pvi_1427.017"/> und Cleopatra, Heinrich <hi rendition="#aq">V</hi>. Weichen und passiven Naturen, leidenden <lb n="pvi_1427.018"/> Frauen, wenn sie Hauptpersonen sind, ist tragische Würde nur dadurch zu <lb n="pvi_1427.019"/> geben, daß ihnen um so mehr menschliche Theilnahme gesichert wird; so neigen <lb n="pvi_1427.020"/> sich Shakespeare's Richard <hi rendition="#aq">II</hi> und Schiller's Maria Stuart von prinzipiell <lb n="pvi_1427.021"/> politischen zu Charakter- und Sittentragödien. Die schneidenden Conflicte <lb n="pvi_1427.022"/> der bürgerlichen Gesellschaft führen nicht nothwendig, aber doch entschieden <lb n="pvi_1427.023"/> drängend zu einer Behandlung, welche das Jnteresse an den prinzipiellen <lb n="pvi_1427.024"/> Conflicten des Rechts, des Herzens, der Ehre, des Anspruchs auf Glück <lb n="pvi_1427.025"/> und Besitz mit festgewurzelten Vorurtheilen der Gesellschaft, Einrichtungen, <lb n="pvi_1427.026"/> Vorrechten, Stände-Unterschieden stärker betont, als das Jnteresse an den <lb n="pvi_1427.027"/> Charakteren und Leidenschaften: eine Form, die in der modernen Zeit zu <lb n="pvi_1427.028"/> großer Bedeutung berufen ist. Schiller erhob das bürgerliche Charakterstück <lb n="pvi_1427.029"/> durch Kabale und Liebe in diese Sphäre. Daß wir die Absichtlichkeit der <lb n="pvi_1427.030"/> eigentlichen Tendenz auch hier, wo sie am nächsten liegt, aus der wahren <lb n="pvi_1427.031"/> Poesie wegweisen, folgt aus allen Vordersätzen des Systems. Hettner <lb n="pvi_1427.032"/> (a. a. O. S. 86 ff.) nennt diese Gattung das Drama der Verhältnisse und <lb n="pvi_1427.033"/> will strenge zwischen Conflicten mit vorübergehenden Vorurtheilen, Einrichtungen <lb n="pvi_1427.034"/> der Gesellschaft und mit bleibenden unterscheiden. Allein die <lb n="pvi_1427.035"/> Grenze ist kaum zu ziehen; der menschliche Geist schafft sich in der Gesellschaft <lb n="pvi_1427.036"/> immer neue Formen und verhärtet sich dann in ihnen, so daß sie zur <lb n="pvi_1427.037"/> Grausamkeit werden, bis er sie endlich stürzt; mag je für die Gegenwart <lb n="pvi_1427.038"/> auch eine solche Form ganz veraltet sein, so erkennen wir doch darin ein <lb n="pvi_1427.039"/> Bild derselben Verhärtung, die in anderen Formen auch heute da ist und <lb n="pvi_1427.040"/> stets wiederkehrt, und das allgemeine, bleibend menschliche Jnteresse wird <lb n="pvi_1427.041"/> daher nicht fehlen, wenn nur nicht ganz zufällige und unserem Bewußtsein, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1427/0289]
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Sage aus den Ereignissen und Thaten eines noch unbefestigten öffentlichen pvi_1427.002
Lebens das allgemein Menschliche heraus; es ist in den classischen Tragödien, pvi_1427.003
im Lear, Makbeth, Hamlet nicht gleichgültig, daß es sich um Heroen, pvi_1427.004
Fürsten, Völker, Staaten handelt, das menschliche Pathos gewinnt andere pvi_1427.005
Bedeutung auf dieser monumentalen Höhe, aber den Mittelpunct bildet pvi_1427.006
doch nicht ein Kampf zwischen einer bestehenden politischen Ordnung und pvi_1427.007
einer Jdee, die sie zu stürzen, organisch umzugestalten strebt, sondern Charakter, pvi_1427.008
Grundempfindungen des menschlichen Lebens, innere Zustände des pvi_1427.009
Gemüths, Sitten. Die Stoffe der bürgerlichen Gesellschaft haben wir pvi_1427.010
in §. 910, Anm. von denen des Privatlebens dadurch unterschieden, pvi_1427.011
daß sie soziale Fragen enthalten. Doch führt dieß noch nicht unmittelbar pvi_1427.012
zu der Prinzipientragödie; auch so kann der Nachdruck auf Leidenschaft und pvi_1427.013
Charakter liegen, und daß ebendieß der Sphäre des engeren Privatlebens pvi_1427.014
natürlich ist, erhellt von selbst. Allein diese Sätze gelten keineswegs unbedingt. pvi_1427.015
Daß der historisch politische Schauplatz je nach seiner Beschaffenheit pvi_1427.016
auch zur Charakter-Tragödie führt, beweist Shakespeare's Coriolan, Antonius pvi_1427.017
und Cleopatra, Heinrich V. Weichen und passiven Naturen, leidenden pvi_1427.018
Frauen, wenn sie Hauptpersonen sind, ist tragische Würde nur dadurch zu pvi_1427.019
geben, daß ihnen um so mehr menschliche Theilnahme gesichert wird; so neigen pvi_1427.020
sich Shakespeare's Richard II und Schiller's Maria Stuart von prinzipiell pvi_1427.021
politischen zu Charakter- und Sittentragödien. Die schneidenden Conflicte pvi_1427.022
der bürgerlichen Gesellschaft führen nicht nothwendig, aber doch entschieden pvi_1427.023
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Vorrechten, Stände-Unterschieden stärker betont, als das Jnteresse an den pvi_1427.027
Charakteren und Leidenschaften: eine Form, die in der modernen Zeit zu pvi_1427.028
großer Bedeutung berufen ist. Schiller erhob das bürgerliche Charakterstück pvi_1427.029
durch Kabale und Liebe in diese Sphäre. Daß wir die Absichtlichkeit der pvi_1427.030
eigentlichen Tendenz auch hier, wo sie am nächsten liegt, aus der wahren pvi_1427.031
Poesie wegweisen, folgt aus allen Vordersätzen des Systems. Hettner pvi_1427.032
(a. a. O. S. 86 ff.) nennt diese Gattung das Drama der Verhältnisse und pvi_1427.033
will strenge zwischen Conflicten mit vorübergehenden Vorurtheilen, Einrichtungen pvi_1427.034
der Gesellschaft und mit bleibenden unterscheiden. Allein die pvi_1427.035
Grenze ist kaum zu ziehen; der menschliche Geist schafft sich in der Gesellschaft pvi_1427.036
immer neue Formen und verhärtet sich dann in ihnen, so daß sie zur pvi_1427.037
Grausamkeit werden, bis er sie endlich stürzt; mag je für die Gegenwart pvi_1427.038
auch eine solche Form ganz veraltet sein, so erkennen wir doch darin ein pvi_1427.039
Bild derselben Verhärtung, die in anderen Formen auch heute da ist und pvi_1427.040
stets wiederkehrt, und das allgemeine, bleibend menschliche Jnteresse wird pvi_1427.041
daher nicht fehlen, wenn nur nicht ganz zufällige und unserem Bewußtsein,
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