Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1430.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0292" n="1430"/><lb n="pvi_1430.001"/> der reinen Humanität er angelegt hat, und schließt die Handlung schlecht <lb n="pvi_1430.002"/> im Sinne des bürgerlichen Familienstücks. Der Patriarch mußte zum <lb n="pvi_1430.003"/> Aeußersten schreiten, der Templer in einem spannenden Momente furchtbarer <lb n="pvi_1430.004"/> Gefahr als Retter Nathan's auftreten und dadurch seine Erhebung aus <lb n="pvi_1430.005"/> dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieses Drama immer <lb n="pvi_1430.006"/> glücklich schließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Geschwistern <lb n="pvi_1430.007"/> werden müssen. Es ist hier vor Allem der freie, klare, harmonische <lb n="pvi_1430.008"/> Charakter des Nathan, der ein positives Ende fordert; so in Göthe's <lb n="pvi_1430.009"/> Jphigenie der Charakter der Heldinn, von dessen himmlischer Reinheit <lb n="pvi_1430.010"/> heilende, sittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, so Heinrich <hi rendition="#aq">V</hi> in <lb n="pvi_1430.011"/> Shakespeare's Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte, <lb n="pvi_1430.012"/> elastische, freie, zum Sieg über sich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene <lb n="pvi_1430.013"/> Kraft darstellt. Die Charakter-Auffassung ist die eine der spezielleren Grundbedingungen <lb n="pvi_1430.014"/> glücklichen Ausgangs; sie kann mit der andern, der minder <lb n="pvi_1430.015"/> schneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch <lb n="pvi_1430.016"/> natürlich das Seltnere ist, in siegreichen Widerspruch mit schroffem Conflicte <lb n="pvi_1430.017"/> treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr. <lb n="pvi_1430.018"/> v. Kleist's Prinzen Friederich von Homburg, es ist der Widerstreit zwischen Subordination <lb n="pvi_1430.019"/> im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die <lb n="pvi_1430.020"/> schlichte Weisheit und Größe des Kurfürsten; dagegen in Göthe's Jphigenie <lb n="pvi_1430.021"/> sehen wir eine Collision von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwischen <lb n="pvi_1430.022"/> Bruderliebe und zwischen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit <lb n="pvi_1430.023"/> nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen <lb n="pvi_1430.024"/> männlichen Charakters (des Thoas) sich lösen. – Wir kommen nun auf <lb n="pvi_1430.025"/> das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komischen bei Anlegung <lb n="pvi_1430.026"/> auf glücklichen Schluß bemerkt ist. Shakespeare gibt der Gewißheit eines <lb n="pvi_1430.027"/> glücklichen Ausgangs, wo sie sich schon in der Anlage der Handlung ankündigt, <lb n="pvi_1430.028"/> immer die Folge, daß er das komische Element weit über den Grad <lb n="pvi_1430.029"/> verstärkt, den der charakteristische Styl auch im negativ Tragischen zuläßt, und <lb n="pvi_1430.030"/> zwar bis dahin, daß selbst Heinrich <hi rendition="#aq">V</hi> eine Komödie hieße, wenn er seine <lb n="pvi_1430.031"/> Stelle nicht in einem Zusammenhang hätte, der den Namen historisches <lb n="pvi_1430.032"/> Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es <lb n="pvi_1430.033"/> verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernsten Zusammenhang <lb n="pvi_1430.034"/> geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das <lb n="pvi_1430.035"/> Komische, mag es sich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der <lb n="pvi_1430.036"/> Nähe der schweren Entscheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß <lb n="pvi_1430.037"/> namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen <lb n="pvi_1430.038"/> bleiben, eine lichte Weltanschauung in Dramen mit positiv tragischem Ausgang <lb n="pvi_1430.039"/> so niederzulegen, daß er dabei seine „folgerechte, Uebereinstimmung <lb n="pvi_1430.040"/> liebende Denkart“ (wenn sie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe <lb n="pvi_1430.041"/> über die komischen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1430/0292]
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der reinen Humanität er angelegt hat, und schließt die Handlung schlecht pvi_1430.002
im Sinne des bürgerlichen Familienstücks. Der Patriarch mußte zum pvi_1430.003
Aeußersten schreiten, der Templer in einem spannenden Momente furchtbarer pvi_1430.004
Gefahr als Retter Nathan's auftreten und dadurch seine Erhebung aus pvi_1430.005
dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieses Drama immer pvi_1430.006
glücklich schließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Geschwistern pvi_1430.007
werden müssen. Es ist hier vor Allem der freie, klare, harmonische pvi_1430.008
Charakter des Nathan, der ein positives Ende fordert; so in Göthe's pvi_1430.009
Jphigenie der Charakter der Heldinn, von dessen himmlischer Reinheit pvi_1430.010
heilende, sittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, so Heinrich V in pvi_1430.011
Shakespeare's Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte, pvi_1430.012
elastische, freie, zum Sieg über sich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene pvi_1430.013
Kraft darstellt. Die Charakter-Auffassung ist die eine der spezielleren Grundbedingungen pvi_1430.014
glücklichen Ausgangs; sie kann mit der andern, der minder pvi_1430.015
schneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch pvi_1430.016
natürlich das Seltnere ist, in siegreichen Widerspruch mit schroffem Conflicte pvi_1430.017
treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr. pvi_1430.018
v. Kleist's Prinzen Friederich von Homburg, es ist der Widerstreit zwischen Subordination pvi_1430.019
im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die pvi_1430.020
schlichte Weisheit und Größe des Kurfürsten; dagegen in Göthe's Jphigenie pvi_1430.021
sehen wir eine Collision von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwischen pvi_1430.022
Bruderliebe und zwischen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit pvi_1430.023
nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen pvi_1430.024
männlichen Charakters (des Thoas) sich lösen. – Wir kommen nun auf pvi_1430.025
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auf glücklichen Schluß bemerkt ist. Shakespeare gibt der Gewißheit eines pvi_1430.027
glücklichen Ausgangs, wo sie sich schon in der Anlage der Handlung ankündigt, pvi_1430.028
immer die Folge, daß er das komische Element weit über den Grad pvi_1430.029
verstärkt, den der charakteristische Styl auch im negativ Tragischen zuläßt, und pvi_1430.030
zwar bis dahin, daß selbst Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er seine pvi_1430.031
Stelle nicht in einem Zusammenhang hätte, der den Namen historisches pvi_1430.032
Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es pvi_1430.033
verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernsten Zusammenhang pvi_1430.034
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Komische, mag es sich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der pvi_1430.036
Nähe der schweren Entscheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß pvi_1430.037
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über die komischen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.
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