Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1168.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0030" n="1168"/><lb n="pvi_1168.001"/> passiv spiegelnden. Alles hat hier diesen bewußten Blitz, der Lichtpunct im <lb n="pvi_1168.002"/> Auge ist packender, hat den Ausdruck der nicht fehlenden Sicherheit. Die Poesie <lb n="pvi_1168.003"/> ist die eigentlich wissende Kunst. Sie verhält sich zu allen bildenden Künsten <lb n="pvi_1168.004"/> und zu der Musik wie die Malerei zu der Plastik, welche dem todten Auge <lb n="pvi_1168.005"/> erst den fassenden Lichtpunct gibt; es ist ein geistiges Durchleuchtetsein aller <lb n="pvi_1168.006"/> Dinge in ihr, wie dieß keine andere Kunst erringen kann, denn dieser Ausdruck <lb n="pvi_1168.007"/> kann alle Formen erst da beherrschen, wo sie wirklich reiner Schein <lb n="pvi_1168.008"/> sind. An der Forderung, daß im Schönen aller Stoff in reinen Schein <lb n="pvi_1168.009"/> sich verwandle, daß nicht der Durchmesser, nur der Aufriß, nicht das Jnnere <lb n="pvi_1168.010"/> des Gebildes, sondern davon abgelöst die bloße Oberfläche wirke (vgl. §. 54), <lb n="pvi_1168.011"/> haben wir vorzüglich die Bildnerkunst und die Malerei gemessen (§. 600 u. 650). <lb n="pvi_1168.012"/> Aber Stein oder Erz und Farbstoff auf körperlicher Fläche, obgleich diese <lb n="pvi_1168.013"/> Stoffe als solche mit dem <hi rendition="#g">dargestellten</hi> Stoffe von Fleisch, Knochen, <lb n="pvi_1168.014"/> Blut u. s. w. nichts zu schaffen haben, gemahnen doch mit der Gewalt <lb n="pvi_1168.015"/> sinnlicher Gegenwart an die stoffartigen, physiologischen, physikalischen Bedingungen <lb n="pvi_1168.016"/> des Lebens, an den Durchmesser, und was die Musik betrifft, <lb n="pvi_1168.017"/> so setzt die Luftwelle den wirklichen Nerv so unmittelbar in's Zittern, daß <lb n="pvi_1168.018"/> eine höchst pathologische Wirkung nahe liegt. Kurz: in allen andern Künsten <lb n="pvi_1168.019"/> ist die Materie noch nicht vollständig consumirt und sie verhalten sich zur <lb n="pvi_1168.020"/> Dichtkunst wie eine Malerei, welche noch die Farben in ungebrochener <lb n="pvi_1168.021"/> Stoffartigkeit verwendet, zu derjenigen, welche dieselben wahrhaft concret <lb n="pvi_1168.022"/> ineinander verarbeitet und so das Colorit zur Reife sättigt. Das ist die <lb n="pvi_1168.023"/> Frucht davon, daß die Poesie nur für das innere Auge und Ohr darstellt, <lb n="pvi_1168.024"/> den Geist zu dieser <hi rendition="#aq">camera obscura</hi> macht. Mit Geist in Geist malend <lb n="pvi_1168.025"/> verwandelt sie alle Schwere des Körperlebens in reine Gestalt, alles Sein <lb n="pvi_1168.026"/> in bloßes Aussehen, bloßes Erscheinen. Hier ist daher Alles verkocht, <lb n="pvi_1168.027"/> geistig durcharbeitet, durchbeizt. Sie ist gefrorner Wein ohne das Eis, das <lb n="pvi_1168.028"/> die andern Künste mitgeben. Mit dieser Geistigkeit steht nun die andere <lb n="pvi_1168.029"/> Bestimmung des vorh. §., daß die Poesie das Vehikel der Sprache zu einem <lb n="pvi_1168.030"/> Leiter lebendiger innerer Bilder zu gestalten hat, ebensowenig im Widerspruch, <lb n="pvi_1168.031"/> als der Grundbegriff des Schönen überhaupt einen solchen enthält; <lb n="pvi_1168.032"/> das Element der Jnnerlichkeit hebt die Sinnlichkeit so wenig auf, daß vielmehr <lb n="pvi_1168.033"/> gerade die Poesie außerordentlich stoffartiger, pathologischer Wirkung <lb n="pvi_1168.034"/> fähig und leicht in Versuchung ist, zu solcher überzugehen. Wir haben ein <lb n="pvi_1168.035"/> Aehnliches bei der Malerei gesehen, welche so viel geistig sublimirter, vermittelter <lb n="pvi_1168.036"/> ist, als die naive Sculptur, und doch die Sinnlichkeit so viel tiefer <lb n="pvi_1168.037"/> und heißer zu entzünden vermag, namentlich im Nackten. Es hat dieß <lb n="pvi_1168.038"/> seinen Grund nicht nur in der Farbe, sondern eben in der vertieften Jnnerlichkeit <lb n="pvi_1168.039"/> dieser Kunst überhaupt. Alle Leidenschaft hat ihre wahre Stärke <lb n="pvi_1168.040"/> gerade im innern Bilde, das glühend vor dem Geiste schwebt, und die <lb n="pvi_1168.041"/> Kunst, die dieß ganz in der Gewalt hat, muß die heftigsten Erregungen, </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1168/0030]
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passiv spiegelnden. Alles hat hier diesen bewußten Blitz, der Lichtpunct im pvi_1168.002
Auge ist packender, hat den Ausdruck der nicht fehlenden Sicherheit. Die Poesie pvi_1168.003
ist die eigentlich wissende Kunst. Sie verhält sich zu allen bildenden Künsten pvi_1168.004
und zu der Musik wie die Malerei zu der Plastik, welche dem todten Auge pvi_1168.005
erst den fassenden Lichtpunct gibt; es ist ein geistiges Durchleuchtetsein aller pvi_1168.006
Dinge in ihr, wie dieß keine andere Kunst erringen kann, denn dieser Ausdruck pvi_1168.007
kann alle Formen erst da beherrschen, wo sie wirklich reiner Schein pvi_1168.008
sind. An der Forderung, daß im Schönen aller Stoff in reinen Schein pvi_1168.009
sich verwandle, daß nicht der Durchmesser, nur der Aufriß, nicht das Jnnere pvi_1168.010
des Gebildes, sondern davon abgelöst die bloße Oberfläche wirke (vgl. §. 54), pvi_1168.011
haben wir vorzüglich die Bildnerkunst und die Malerei gemessen (§. 600 u. 650). pvi_1168.012
Aber Stein oder Erz und Farbstoff auf körperlicher Fläche, obgleich diese pvi_1168.013
Stoffe als solche mit dem dargestellten Stoffe von Fleisch, Knochen, pvi_1168.014
Blut u. s. w. nichts zu schaffen haben, gemahnen doch mit der Gewalt pvi_1168.015
sinnlicher Gegenwart an die stoffartigen, physiologischen, physikalischen Bedingungen pvi_1168.016
des Lebens, an den Durchmesser, und was die Musik betrifft, pvi_1168.017
so setzt die Luftwelle den wirklichen Nerv so unmittelbar in's Zittern, daß pvi_1168.018
eine höchst pathologische Wirkung nahe liegt. Kurz: in allen andern Künsten pvi_1168.019
ist die Materie noch nicht vollständig consumirt und sie verhalten sich zur pvi_1168.020
Dichtkunst wie eine Malerei, welche noch die Farben in ungebrochener pvi_1168.021
Stoffartigkeit verwendet, zu derjenigen, welche dieselben wahrhaft concret pvi_1168.022
ineinander verarbeitet und so das Colorit zur Reife sättigt. Das ist die pvi_1168.023
Frucht davon, daß die Poesie nur für das innere Auge und Ohr darstellt, pvi_1168.024
den Geist zu dieser camera obscura macht. Mit Geist in Geist malend pvi_1168.025
verwandelt sie alle Schwere des Körperlebens in reine Gestalt, alles Sein pvi_1168.026
in bloßes Aussehen, bloßes Erscheinen. Hier ist daher Alles verkocht, pvi_1168.027
geistig durcharbeitet, durchbeizt. Sie ist gefrorner Wein ohne das Eis, das pvi_1168.028
die andern Künste mitgeben. Mit dieser Geistigkeit steht nun die andere pvi_1168.029
Bestimmung des vorh. §., daß die Poesie das Vehikel der Sprache zu einem pvi_1168.030
Leiter lebendiger innerer Bilder zu gestalten hat, ebensowenig im Widerspruch, pvi_1168.031
als der Grundbegriff des Schönen überhaupt einen solchen enthält; pvi_1168.032
das Element der Jnnerlichkeit hebt die Sinnlichkeit so wenig auf, daß vielmehr pvi_1168.033
gerade die Poesie außerordentlich stoffartiger, pathologischer Wirkung pvi_1168.034
fähig und leicht in Versuchung ist, zu solcher überzugehen. Wir haben ein pvi_1168.035
Aehnliches bei der Malerei gesehen, welche so viel geistig sublimirter, vermittelter pvi_1168.036
ist, als die naive Sculptur, und doch die Sinnlichkeit so viel tiefer pvi_1168.037
und heißer zu entzünden vermag, namentlich im Nackten. Es hat dieß pvi_1168.038
seinen Grund nicht nur in der Farbe, sondern eben in der vertieften Jnnerlichkeit pvi_1168.039
dieser Kunst überhaupt. Alle Leidenschaft hat ihre wahre Stärke pvi_1168.040
gerade im innern Bilde, das glühend vor dem Geiste schwebt, und die pvi_1168.041
Kunst, die dieß ganz in der Gewalt hat, muß die heftigsten Erregungen,
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