Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1169.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0031" n="1169"/><lb n="pvi_1169.001"/> die concentrirtesten Affecte hervorrufen können. Es folgt einfach aus dem <lb n="pvi_1169.002"/> Wesen des Schönen, daß diese Hebel nur objectiv verwendet werden sollen, <lb n="pvi_1169.003"/> d. h. daß das Wilde und Ueppige nur entfesselt werden darf in einem Zusammenhang, <lb n="pvi_1169.004"/> der ihm durch einen großen und gesunden Jnhalt seine stoffartige <lb n="pvi_1169.005"/> Spitze bricht und aus der Vollendung der Form hervorleuchtend dem <lb n="pvi_1169.006"/> Heißesten selbst eine ideale Kühle gibt; sonst fällt die Poesie unter ihren <lb n="pvi_1169.007"/> schönsten Beruf herab, worin sich alles hier Gesagte zusammenfaßt: entschiedener, <lb n="pvi_1169.008"/> als jede andere Kunst, die <hi rendition="#g">Jdee</hi> durch die begrenzte Erscheinung <lb n="pvi_1169.009"/> hindurchscheinen zu lassen. Alle Kunst stellt für die Phantasie dar, „die <lb n="pvi_1169.010"/> Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß <lb n="pvi_1169.011"/> des Künstlers“ (W. v. Humboldt. Aesth. Versuche. W. B. 4, S. 19), aber <lb n="pvi_1169.012"/> die bildenden Künste stellen einen Körper in die Mitte zwischen die Phantasie <lb n="pvi_1169.013"/> des Künstlers und Zuschauers, der Musiker bedarf noch eines solchen, um <lb n="pvi_1169.014"/> die Tonwelle zu erzeugen, welche er zur Erscheinung des Bildes seiner <lb n="pvi_1169.015"/> empfindenden Phantasie gestaltet; der Dichter aber weckt unmittelbar Phantasie <lb n="pvi_1169.016"/> mit Phantasie und macht sein Bild <hi rendition="#g">nur so äußerlich,</hi> daß es <hi rendition="#g">in <lb n="pvi_1169.017"/> der Veräußerung innerlich bleibt.</hi> Daher geht ihm nichts verloren <lb n="pvi_1169.018"/> von der <hi rendition="#g">Unendlichkeit,</hi> deren wunderbarer Hauch das Object der <lb n="pvi_1169.019"/> Anschauung umschwebt, sobald es durch die Einbildungskraft innerlich gesetzt <lb n="pvi_1169.020"/> ist (vergl. §. 388), und die natürlich nicht verschwindet, sondern wächst, <lb n="pvi_1169.021"/> wenn sich dieser Act zur Phantasie steigert. Es ist zu §. 388 gesagt, die <lb n="pvi_1169.022"/> Vergeistigung bemächtige sich in dem Momente, wo das Angeschaute zum <lb n="pvi_1169.023"/> innern Bilde wird, obwohl es qualitativ noch nicht zum schönen umgeschaffen <lb n="pvi_1169.024"/> sei, sozusagen erst der Umrisse und mache sie erzittern, in unendlichen Wiederhall <lb n="pvi_1169.025"/> des subjectiven Gefühls verschweben, es ist an die grenzenlose Geistergewalt <lb n="pvi_1169.026"/> des Furchtbaren erinnert, das wir genöthigt werden uns vorzustellen, <lb n="pvi_1169.027"/> während wir es nicht sehen. Wir kommen an seinem Orte darauf zurück, <lb n="pvi_1169.028"/> wie der Dichtkunst die besondern Wirkungen, die in diesen Zusammenhang <lb n="pvi_1169.029"/> gehören, erst wahrhaft zu Gebot stehen. Die Geistigkeit des einzelnen Zuges <lb n="pvi_1169.030"/> im poetischen Bilde ist aber zugleich ein Theil der geistigen Durchsichtigkeit, <lb n="pvi_1169.031"/> der in dieser Kunst wie in keiner andern das Ganze durchdringt. Sie betont <lb n="pvi_1169.032"/> mit jedem Strich ihres Gemäldes nachdrücklicher, als die übrigen Künste, <lb n="pvi_1169.033"/> die ideale Einheit, welcher alle Theile desselben dienen. Der Ausdruck herrscht <lb n="pvi_1169.034"/> hier ähnlich wie in der Malerei, aber auf höherer Stufe, daher intensiver <lb n="pvi_1169.035"/> über die Form. Jsolirt sich ein Theil des Kunstwerks und dient nicht der <lb n="pvi_1169.036"/> Jdee, so ist das Wesen dieser Kunst noch schuldhafter verletzt, als wenn <lb n="pvi_1169.037"/> ebendieß in der bildenden geschieht, denn ihre Gestalten sind geistig schwebend <lb n="pvi_1169.038"/> und flüssig, das Beziehungsvolle ist ihr Element. Nun offenbart das Schöne <lb n="pvi_1169.039"/> in der bestimmten Jdee die absolute Jdee (§. 15); indem es ein Jndividuum <lb n="pvi_1169.040"/> zeigt, das ganz Jndividuum ist und doch ganz seiner Gattung entspricht, <lb n="pvi_1169.041"/> alle Gattungen und deren Jndividuen aber Glieder des Einen Weltganzen </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1169/0031]
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die concentrirtesten Affecte hervorrufen können. Es folgt einfach aus dem pvi_1169.002
Wesen des Schönen, daß diese Hebel nur objectiv verwendet werden sollen, pvi_1169.003
d. h. daß das Wilde und Ueppige nur entfesselt werden darf in einem Zusammenhang, pvi_1169.004
der ihm durch einen großen und gesunden Jnhalt seine stoffartige pvi_1169.005
Spitze bricht und aus der Vollendung der Form hervorleuchtend dem pvi_1169.006
Heißesten selbst eine ideale Kühle gibt; sonst fällt die Poesie unter ihren pvi_1169.007
schönsten Beruf herab, worin sich alles hier Gesagte zusammenfaßt: entschiedener, pvi_1169.008
als jede andere Kunst, die Jdee durch die begrenzte Erscheinung pvi_1169.009
hindurchscheinen zu lassen. Alle Kunst stellt für die Phantasie dar, „die pvi_1169.010
Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß pvi_1169.011
des Künstlers“ (W. v. Humboldt. Aesth. Versuche. W. B. 4, S. 19), aber pvi_1169.012
die bildenden Künste stellen einen Körper in die Mitte zwischen die Phantasie pvi_1169.013
des Künstlers und Zuschauers, der Musiker bedarf noch eines solchen, um pvi_1169.014
die Tonwelle zu erzeugen, welche er zur Erscheinung des Bildes seiner pvi_1169.015
empfindenden Phantasie gestaltet; der Dichter aber weckt unmittelbar Phantasie pvi_1169.016
mit Phantasie und macht sein Bild nur so äußerlich, daß es in pvi_1169.017
der Veräußerung innerlich bleibt. Daher geht ihm nichts verloren pvi_1169.018
von der Unendlichkeit, deren wunderbarer Hauch das Object der pvi_1169.019
Anschauung umschwebt, sobald es durch die Einbildungskraft innerlich gesetzt pvi_1169.020
ist (vergl. §. 388), und die natürlich nicht verschwindet, sondern wächst, pvi_1169.021
wenn sich dieser Act zur Phantasie steigert. Es ist zu §. 388 gesagt, die pvi_1169.022
Vergeistigung bemächtige sich in dem Momente, wo das Angeschaute zum pvi_1169.023
innern Bilde wird, obwohl es qualitativ noch nicht zum schönen umgeschaffen pvi_1169.024
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des subjectiven Gefühls verschweben, es ist an die grenzenlose Geistergewalt pvi_1169.026
des Furchtbaren erinnert, das wir genöthigt werden uns vorzustellen, pvi_1169.027
während wir es nicht sehen. Wir kommen an seinem Orte darauf zurück, pvi_1169.028
wie der Dichtkunst die besondern Wirkungen, die in diesen Zusammenhang pvi_1169.029
gehören, erst wahrhaft zu Gebot stehen. Die Geistigkeit des einzelnen Zuges pvi_1169.030
im poetischen Bilde ist aber zugleich ein Theil der geistigen Durchsichtigkeit, pvi_1169.031
der in dieser Kunst wie in keiner andern das Ganze durchdringt. Sie betont pvi_1169.032
mit jedem Strich ihres Gemäldes nachdrücklicher, als die übrigen Künste, pvi_1169.033
die ideale Einheit, welcher alle Theile desselben dienen. Der Ausdruck herrscht pvi_1169.034
hier ähnlich wie in der Malerei, aber auf höherer Stufe, daher intensiver pvi_1169.035
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Jdee, so ist das Wesen dieser Kunst noch schuldhafter verletzt, als wenn pvi_1169.037
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in der bestimmten Jdee die absolute Jdee (§. 15); indem es ein Jndividuum pvi_1169.040
zeigt, das ganz Jndividuum ist und doch ganz seiner Gattung entspricht, pvi_1169.041
alle Gattungen und deren Jndividuen aber Glieder des Einen Weltganzen
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