Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1170.001 Die Persönlichkeit des Dichters wird von diesem Charakter der Poesie pvi_1170.038
pvi_1170.001 Die Persönlichkeit des Dichters wird von diesem Charakter der Poesie pvi_1170.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0032" n="1170"/><lb n="pvi_1170.001"/> sind, so öffnet es den Blick in eine Welt, welche überall vollkommen ist, <lb n="pvi_1170.002"/> und faßt in seinen Ring, sei er klein oder groß, das All. Die Unendlichkeit <lb n="pvi_1170.003"/> des ächten Kunstwerks ist daher zugleich Totalität; hat aber keine Kunst so <lb n="pvi_1170.004"/> intensiven Charakter der Unendlichkeit wie die Poesie, so entfaltet auch keine <lb n="pvi_1170.005"/> im engen Raum des Einzelnen so vernehmbar das Ganze der Welt, der <lb n="pvi_1170.006"/> Menschheit und ihres Schicksals, der Natur in ihrer unendlichen Sympathie <lb n="pvi_1170.007"/> mit der Menschenwelt, keine vermag uns so entschieden „in einen Mittelpunct <lb n="pvi_1170.008"/> zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen in's Unendliche <lb n="pvi_1170.009"/> ausgehen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30). Es ist das Herrliche <lb n="pvi_1170.010"/> an einem Kinde, daß es noch ganz als bloße Möglichkeit, daher als unendliche <lb n="pvi_1170.011"/> Möglichkeit erscheint; die männlichste, activste Kunstform verleiht <lb n="pvi_1170.012"/> ihren Gebilden bei aller Kraft der Begrenzung diese Grenzenlosigkeit der <lb n="pvi_1170.013"/> Perspective und erhebt den einfachsten Fall zum Weltbilde. Hemsterhuis <lb n="pvi_1170.014"/> bestimmt das Schöne als das, was die größte Jdeenzahl in der kleinsten <lb n="pvi_1170.015"/> Zeit gewährt; damit ist nicht sein Wesen, aber ein nothwendiges Merkmal <lb n="pvi_1170.016"/> seines Wesens ausgesprochen und der Poesie kommt im höchsten Grade dieses <lb n="pvi_1170.017"/> Merkmal zu. Ueber Homer's, Shakespeare's, Göthe's Gestaltungen meint <lb n="pvi_1170.018"/> man ein wunderbares Zittern mystischer Luftwellen wahrzunehmen, Zauberfäden, <lb n="pvi_1170.019"/> die von dem klar Begrenzten in das Unendliche hinauslaufen, es ist <lb n="pvi_1170.020"/> eine Aussicht, wie von einem festen Puncte auf das Meer; es scheint alles <lb n="pvi_1170.021"/> Große, ewig Wahre herzuschweben, um sich in den geschlossenen Kreis des <lb n="pvi_1170.022"/> Gedichts zu fangen und wieder hinauszurinnen in alle Weite. Es ist nur <lb n="pvi_1170.023"/> dieser Mensch, diese Gruppe von Menschen, diese Natur umher, und man <lb n="pvi_1170.024"/> ruft doch aus: so ist der Mensch! das sind des Menschen Kräfte, das die <lb n="pvi_1170.025"/> Wechselwirkung mit der Natur! Oder es ist sogar nur ein Baum, Fluß, <lb n="pvi_1170.026"/> Berg, ein Thier und doch knüpft sich Ahnung des ganzen Daseins und der <lb n="pvi_1170.027"/> Geschicke der Seele und der wechselnden Menschengeschlechter daran. Das <lb n="pvi_1170.028"/> ächte Dichtwerk ist auch daher nie zu Ende zu erklären; ein solcher Baum <lb n="pvi_1170.029"/> mag geschüttelt werden, so oft man will, er spendet immer neue Früchte. <lb n="pvi_1170.030"/> Ein Vorhang schließt den Hintergrund der Scene ab, aber er bewegt sich <lb n="pvi_1170.031"/> geisterhaft und man meint ein Flüstern hinter ihm zu vernehmen von wunderbaren <lb n="pvi_1170.032"/> Stimmen. Der Maler wird einen Fluß so behandeln, daß man <lb n="pvi_1170.033"/> seine Kühle zu fühlen, sein Rauschen zu vernehmen glaubt, daß man im <lb n="pvi_1170.034"/> Wechselspiel seines Spiegels mit Luft und Himmel ein Bild der menschlichen <lb n="pvi_1170.035"/> Seele ahnt, aber Göthe im „Fischer“ und E. Mörike in „Mein Fluß“ <lb n="pvi_1170.036"/> <hi rendition="#g">sagen</hi> es, leihen der Ahnung das Wort.</hi> </p> <lb n="pvi_1170.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Persönlichkeit des Dichters wird von diesem Charakter der Poesie <lb n="pvi_1170.038"/> das Gepräge tragen. Den Naturen, die für die bildenden Künste organisirt <lb n="pvi_1170.039"/> sind, theilt sich etwas von der Ausschließlichkeit ihres Materials mit und <lb n="pvi_1170.040"/> der Beruf, den Jnhalt wortlos in dasselbe zu versenken, ist von einer gewissen <lb n="pvi_1170.041"/> relativen Unbewußtheit begleitet; der Musiker löst dem Jnhalt die </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1170/0032]
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sind, so öffnet es den Blick in eine Welt, welche überall vollkommen ist, pvi_1170.002
und faßt in seinen Ring, sei er klein oder groß, das All. Die Unendlichkeit pvi_1170.003
des ächten Kunstwerks ist daher zugleich Totalität; hat aber keine Kunst so pvi_1170.004
intensiven Charakter der Unendlichkeit wie die Poesie, so entfaltet auch keine pvi_1170.005
im engen Raum des Einzelnen so vernehmbar das Ganze der Welt, der pvi_1170.006
Menschheit und ihres Schicksals, der Natur in ihrer unendlichen Sympathie pvi_1170.007
mit der Menschenwelt, keine vermag uns so entschieden „in einen Mittelpunct pvi_1170.008
zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen in's Unendliche pvi_1170.009
ausgehen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30). Es ist das Herrliche pvi_1170.010
an einem Kinde, daß es noch ganz als bloße Möglichkeit, daher als unendliche pvi_1170.011
Möglichkeit erscheint; die männlichste, activste Kunstform verleiht pvi_1170.012
ihren Gebilden bei aller Kraft der Begrenzung diese Grenzenlosigkeit der pvi_1170.013
Perspective und erhebt den einfachsten Fall zum Weltbilde. Hemsterhuis pvi_1170.014
bestimmt das Schöne als das, was die größte Jdeenzahl in der kleinsten pvi_1170.015
Zeit gewährt; damit ist nicht sein Wesen, aber ein nothwendiges Merkmal pvi_1170.016
seines Wesens ausgesprochen und der Poesie kommt im höchsten Grade dieses pvi_1170.017
Merkmal zu. Ueber Homer's, Shakespeare's, Göthe's Gestaltungen meint pvi_1170.018
man ein wunderbares Zittern mystischer Luftwellen wahrzunehmen, Zauberfäden, pvi_1170.019
die von dem klar Begrenzten in das Unendliche hinauslaufen, es ist pvi_1170.020
eine Aussicht, wie von einem festen Puncte auf das Meer; es scheint alles pvi_1170.021
Große, ewig Wahre herzuschweben, um sich in den geschlossenen Kreis des pvi_1170.022
Gedichts zu fangen und wieder hinauszurinnen in alle Weite. Es ist nur pvi_1170.023
dieser Mensch, diese Gruppe von Menschen, diese Natur umher, und man pvi_1170.024
ruft doch aus: so ist der Mensch! das sind des Menschen Kräfte, das die pvi_1170.025
Wechselwirkung mit der Natur! Oder es ist sogar nur ein Baum, Fluß, pvi_1170.026
Berg, ein Thier und doch knüpft sich Ahnung des ganzen Daseins und der pvi_1170.027
Geschicke der Seele und der wechselnden Menschengeschlechter daran. Das pvi_1170.028
ächte Dichtwerk ist auch daher nie zu Ende zu erklären; ein solcher Baum pvi_1170.029
mag geschüttelt werden, so oft man will, er spendet immer neue Früchte. pvi_1170.030
Ein Vorhang schließt den Hintergrund der Scene ab, aber er bewegt sich pvi_1170.031
geisterhaft und man meint ein Flüstern hinter ihm zu vernehmen von wunderbaren pvi_1170.032
Stimmen. Der Maler wird einen Fluß so behandeln, daß man pvi_1170.033
seine Kühle zu fühlen, sein Rauschen zu vernehmen glaubt, daß man im pvi_1170.034
Wechselspiel seines Spiegels mit Luft und Himmel ein Bild der menschlichen pvi_1170.035
Seele ahnt, aber Göthe im „Fischer“ und E. Mörike in „Mein Fluß“ pvi_1170.036
sagen es, leihen der Ahnung das Wort.
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Die Persönlichkeit des Dichters wird von diesem Charakter der Poesie pvi_1170.038
das Gepräge tragen. Den Naturen, die für die bildenden Künste organisirt pvi_1170.039
sind, theilt sich etwas von der Ausschließlichkeit ihres Materials mit und pvi_1170.040
der Beruf, den Jnhalt wortlos in dasselbe zu versenken, ist von einer gewissen pvi_1170.041
relativen Unbewußtheit begleitet; der Musiker löst dem Jnhalt die
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