Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1442.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0304" n="1442"/><lb n="pvi_1442.001"/> Spieltrieb als subjectiver Nachahmungstrieb (§. 515, 2.) kommt ihr <lb n="pvi_1442.002"/> hier zu entschieden zu Hülfe, als daß sie nicht der kunstmäßigen Poesie ihre <lb n="pvi_1442.003"/> naiven Erzeugnisse voranschicken sollte. Die Mysterien waren die Vorläufer <lb n="pvi_1442.004"/> der modernen Tragödie, die Fastnachtsspiele der Komödie. Allein auf jenem <lb n="pvi_1442.005"/> Felde konnte sich die naive Dichtung neben der entwickelten Kunstpoesie nicht <lb n="pvi_1442.006"/> fortbehaupten; im ernsten Gebiete kennt das Volk keine andere Jdealität, <lb n="pvi_1442.007"/> als die mythische, und bringt es nie vom halb Epischen zum ächt Dramatischen; <lb n="pvi_1442.008"/> die Hoffnungen, die man an die Festspiele im bairischen Gebirge <lb n="pvi_1442.009"/> knüpfte, waren irrig. Dagegen hat gerade das Volk den rechten Sinn der <lb n="pvi_1442.010"/> Realität für das Komische und der Vorgang seiner naiven Erzeugnisse in <lb n="pvi_1442.011"/> diesem Gebiete war ungleich wichtiger und fruchtbarer, als der im ernsten; <lb n="pvi_1442.012"/> daher hat sich neben der Komödie der Kunstpoesie und ihrem Theater das <lb n="pvi_1442.013"/> Volkslustspiel mit der Volksbühne mitten in den Städten erhalten längst <lb n="pvi_1442.014"/> nachdem die erstere recht in Opposition gegen sie und ihren Cynismus die <lb n="pvi_1442.015"/> feinere Komik ausgebildet hatte. Es bewegt sich naturgemäß im greiflich <lb n="pvi_1442.016"/> Komischen, wie wir es in §. 188 ff. dargestellt haben, und an diese Form <lb n="pvi_1442.017"/> knüpft sich daher die hier erwachsende Neben-Eintheilung der Komödie. Wir <lb n="pvi_1442.018"/> haben dem derben Geiste des Possenhaften sein gutes Recht zuerkannt und <lb n="pvi_1442.019"/> die Komödie der Bildung dürfte sich an dieser Quelle recht wohl erfrischen, <lb n="pvi_1442.020"/> Geist des gesunden und ungetrübt heiteren Lachens schöpfen, wie die lyrische <lb n="pvi_1442.021"/> Poesie ächtes Gefühl aus dem Brunnen des Volkslieds. Die Objectivität <lb n="pvi_1442.022"/> des Naiven geht hier so weit, daß die Rede entbehrlich wird und die Pantomime <lb n="pvi_1442.023"/> hinreicht; die alten italienischen Scherze des Pierro, Arlechino, <lb n="pvi_1442.024"/> Pantalone, der Colombine u. s. w. haben sich gerade darum auch wirklich <lb n="pvi_1442.025"/> am reinsten in ihrem Element erhalten, denn mit der Rede sind viele zersetzende <lb n="pvi_1442.026"/> Stoffe in das Volkslustspiel eingedrungen, wie S. Carlino in Neapel, <lb n="pvi_1442.027"/> die Volkstheater in Wien allerdings leidig beweisen. Raimund führte Romantik, <lb n="pvi_1442.028"/> directe Moral, Politik, Sentimentalität hinein, blieb aber in den <lb n="pvi_1442.029"/> Grundlagen noch ächt volksthümlich komisch, mit Nestroy und And. aber <lb n="pvi_1442.030"/> beginnt die Gemeinheit und die Corruption. – Wir haben im ersten Theile <lb n="pvi_1442.031"/> das naiv Komische durch den Namen Posse bezeichnet; der §. setzt dafür <lb n="pvi_1442.032"/> nur darum den Namen Burleske, weil im gegenwärtigen Zusammenhang <lb n="pvi_1442.033"/> der erstere eine besondere Form bezeichnet, und zwar diejenige, welche im <lb n="pvi_1442.034"/> Gebiete der Kunstpoesie am verwandtesten dem Volkslustspiele gegenübersteht. <lb n="pvi_1442.035"/> Es ist eine kleine Form, die gewöhnlich einer Tragödie oder einer Komödie <lb n="pvi_1442.036"/> mit rührendem Mittelpunct an Einem Theater-Abende nachfolgt, die Farce <lb n="pvi_1442.037"/> der Franzosen und von diesen mit besonderer Zierlichkeit angebaut. Sie <lb n="pvi_1442.038"/> verhält sich wie die Novelle zum Romane, sie entwickelt mit schlagender <lb n="pvi_1442.039"/> Kürze eine komische Situation. Sie mag dieselbe aus den raffinirten Zuständen <lb n="pvi_1442.040"/> der modernen Gesellschaft nehmen: auch diese laden sich in unendlichen <lb n="pvi_1442.041"/> Verlegenheiten, Contrasten aus, die sich derb in der Körperwelt niederschlagen, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1442/0304]
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Spieltrieb als subjectiver Nachahmungstrieb (§. 515, 2.) kommt ihr pvi_1442.002
hier zu entschieden zu Hülfe, als daß sie nicht der kunstmäßigen Poesie ihre pvi_1442.003
naiven Erzeugnisse voranschicken sollte. Die Mysterien waren die Vorläufer pvi_1442.004
der modernen Tragödie, die Fastnachtsspiele der Komödie. Allein auf jenem pvi_1442.005
Felde konnte sich die naive Dichtung neben der entwickelten Kunstpoesie nicht pvi_1442.006
fortbehaupten; im ernsten Gebiete kennt das Volk keine andere Jdealität, pvi_1442.007
als die mythische, und bringt es nie vom halb Epischen zum ächt Dramatischen; pvi_1442.008
die Hoffnungen, die man an die Festspiele im bairischen Gebirge pvi_1442.009
knüpfte, waren irrig. Dagegen hat gerade das Volk den rechten Sinn der pvi_1442.010
Realität für das Komische und der Vorgang seiner naiven Erzeugnisse in pvi_1442.011
diesem Gebiete war ungleich wichtiger und fruchtbarer, als der im ernsten; pvi_1442.012
daher hat sich neben der Komödie der Kunstpoesie und ihrem Theater das pvi_1442.013
Volkslustspiel mit der Volksbühne mitten in den Städten erhalten längst pvi_1442.014
nachdem die erstere recht in Opposition gegen sie und ihren Cynismus die pvi_1442.015
feinere Komik ausgebildet hatte. Es bewegt sich naturgemäß im greiflich pvi_1442.016
Komischen, wie wir es in §. 188 ff. dargestellt haben, und an diese Form pvi_1442.017
knüpft sich daher die hier erwachsende Neben-Eintheilung der Komödie. Wir pvi_1442.018
haben dem derben Geiste des Possenhaften sein gutes Recht zuerkannt und pvi_1442.019
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Poesie ächtes Gefühl aus dem Brunnen des Volkslieds. Die Objectivität pvi_1442.022
des Naiven geht hier so weit, daß die Rede entbehrlich wird und die Pantomime pvi_1442.023
hinreicht; die alten italienischen Scherze des Pierro, Arlechino, pvi_1442.024
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die Volkstheater in Wien allerdings leidig beweisen. Raimund führte Romantik, pvi_1442.028
directe Moral, Politik, Sentimentalität hinein, blieb aber in den pvi_1442.029
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beginnt die Gemeinheit und die Corruption. – Wir haben im ersten Theile pvi_1442.031
das naiv Komische durch den Namen Posse bezeichnet; der §. setzt dafür pvi_1442.032
nur darum den Namen Burleske, weil im gegenwärtigen Zusammenhang pvi_1442.033
der erstere eine besondere Form bezeichnet, und zwar diejenige, welche im pvi_1442.034
Gebiete der Kunstpoesie am verwandtesten dem Volkslustspiele gegenübersteht. pvi_1442.035
Es ist eine kleine Form, die gewöhnlich einer Tragödie oder einer Komödie pvi_1442.036
mit rührendem Mittelpunct an Einem Theater-Abende nachfolgt, die Farce pvi_1442.037
der Franzosen und von diesen mit besonderer Zierlichkeit angebaut. Sie pvi_1442.038
verhält sich wie die Novelle zum Romane, sie entwickelt mit schlagender pvi_1442.039
Kürze eine komische Situation. Sie mag dieselbe aus den raffinirten Zuständen pvi_1442.040
der modernen Gesellschaft nehmen: auch diese laden sich in unendlichen pvi_1442.041
Verlegenheiten, Contrasten aus, die sich derb in der Körperwelt niederschlagen,
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