Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1448.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0310" n="1448"/><lb n="pvi_1448.001"/> dünne Band des (zunächst nicht mimischen, nicht künstlerischen) Vortrags verzichtet. <lb n="pvi_1448.002"/> Was dadurch gewonnen ist, haben wir gesehen; aber der unendliche <lb n="pvi_1448.003"/> Gewinn ist auch ein wesentlicher Verlust. Das Schöne will auf die wirkliche, <lb n="pvi_1448.004"/> eigentliche Sinnlichkeit, nicht blos auf die innere wirken, es will <hi rendition="#g">sein,</hi> die <lb n="pvi_1448.005"/> Kunst ist nicht umsonst höhere Einheit des Naturschönen und der Phantasie. <lb n="pvi_1448.006"/> Die Poesie kann nicht aus sich selbst das Band mit der wirklichen Sinnlichkeit <lb n="pvi_1448.007"/> wieder aufnehmen, sie bewegt sich rein in der innerlich gewordenen, <lb n="pvi_1448.008"/> ideal gesetzten; sie muß sich, wenn sie den Schritt thun will, anhängend, <lb n="pvi_1448.009"/> aber doch innig mit andern Formen verbinden. Gegeben aber ist der Schritt <lb n="pvi_1448.010"/> auf der Spitze der Dichtkunst, im Drama. Die innerlich vorgestellte Gegenwärtigkeit <lb n="pvi_1448.011"/> ist hier so stark, so voll bis an die Schleuse gedrängt, daß sie mit <lb n="pvi_1448.012"/> Macht durchbrechen, sich auch als äußere erschließen muß. Geschichtlich verhält <lb n="pvi_1448.013"/> sich dieß sogar so, daß das Drama als Dichtwerk aus der sinnlichen Darstellung, <lb n="pvi_1448.014"/> der Mimik, zunächst als Spiel des subjectiven Nachahmungstriebs, <lb n="pvi_1448.015"/> auf den wir (§. 919 Anm. 1.) schon zurückgewiesen haben, erwachsen ist; <lb n="pvi_1448.016"/> nur hindert dieß nicht, die wirkliche dramatische Poesie als das logisch <lb n="pvi_1448.017"/> Voraufgehende hinzustellen, das als bestimmendes Subject eines Ganzen <lb n="pvi_1448.018"/> das Element, aus dem es naturalistisch erwachsen ist, sich künstlerisch nachbildet <lb n="pvi_1448.019"/> und zu sich heraufnimmt. Wir haben in der Lehre vom Wesen der <lb n="pvi_1448.020"/> dramatischen Poesie durchaus die gegenwärtige Lebendigkeit der Handelnden <lb n="pvi_1448.021"/> als Grundbegriff aufgestellt und doch die wirkliche Aufführung noch ausgeschlossen. <lb n="pvi_1448.022"/> Dieß war wissenschaftlich nöthig, um die Begriffe in ihrem Unterschiede <lb n="pvi_1448.023"/> rein zu halten, und die Forderungen der Gattung lassen sich fest <lb n="pvi_1448.024"/> begründen, wenn auch nur an die Schaubühne in der Phantasie der Leser <lb n="pvi_1448.025"/> gedacht wird. Nun aber ist es Zeit, es auszusprechen, daß hiemit die <lb n="pvi_1448.026"/> Gegenwärtigkeit auf dem Puncte der äußersten Reife und Sättigung angekommen <lb n="pvi_1448.027"/> ist, wo sie zur äußern werden muß. Die blos innere Schaubühne <lb n="pvi_1448.028"/> leidet wieder an den Mängeln der bloßen Phantasie vor der Kunst, <lb n="pvi_1448.029"/> für den Leser wie für den Dichter. Wir haben gesagt, es stelle sich der <lb n="pvi_1448.030"/> dramatische Charakter mit greiflicher Deutlichkeit vor unser inneres Auge; <lb n="pvi_1448.031"/> aber dabei war von dem Maaßstabe der Deutlichkeit abgesehen, den die <lb n="pvi_1448.032"/> wirklich sinnliche Erscheinung abgibt. Erst durch diese, erst in der Aufführung <lb n="pvi_1448.033"/> erkennt Dichter und Zuschauer die Lücken und Mängel des erst <lb n="pvi_1448.034"/> noch innerlichen Phantasiebildes. Die Execution ist dessen Probstein, ja, <lb n="pvi_1448.035"/> wie alles Material durch seine festen Bedingungen (vergl. §. 518, 1.), ein <lb n="pvi_1448.036"/> auf die Erfindung rückwirkender, durch die an ihm gemachten Erfahrungen <lb n="pvi_1448.037"/> Motive hervorrufender Hebel. Es ist bekannt, wie manche große Charakter= <lb n="pvi_1448.038"/> Rollen in Berechnung für bestimmte Schauspieler geschaffen sind; namentlich <lb n="pvi_1448.039"/> erkennt der Dichter selbst an der wirklichen Aufführung erst, was ächt <lb n="pvi_1448.040"/> dramatisch, d. h. schlagend, packend ist. Die dramatische Poesie kann nur <lb n="pvi_1448.041"/> an einem Orte gedeihen, wo Theater ist. Die Entfremdung von der </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1448/0310]
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dünne Band des (zunächst nicht mimischen, nicht künstlerischen) Vortrags verzichtet. pvi_1448.002
Was dadurch gewonnen ist, haben wir gesehen; aber der unendliche pvi_1448.003
Gewinn ist auch ein wesentlicher Verlust. Das Schöne will auf die wirkliche, pvi_1448.004
eigentliche Sinnlichkeit, nicht blos auf die innere wirken, es will sein, die pvi_1448.005
Kunst ist nicht umsonst höhere Einheit des Naturschönen und der Phantasie. pvi_1448.006
Die Poesie kann nicht aus sich selbst das Band mit der wirklichen Sinnlichkeit pvi_1448.007
wieder aufnehmen, sie bewegt sich rein in der innerlich gewordenen, pvi_1448.008
ideal gesetzten; sie muß sich, wenn sie den Schritt thun will, anhängend, pvi_1448.009
aber doch innig mit andern Formen verbinden. Gegeben aber ist der Schritt pvi_1448.010
auf der Spitze der Dichtkunst, im Drama. Die innerlich vorgestellte Gegenwärtigkeit pvi_1448.011
ist hier so stark, so voll bis an die Schleuse gedrängt, daß sie mit pvi_1448.012
Macht durchbrechen, sich auch als äußere erschließen muß. Geschichtlich verhält pvi_1448.013
sich dieß sogar so, daß das Drama als Dichtwerk aus der sinnlichen Darstellung, pvi_1448.014
der Mimik, zunächst als Spiel des subjectiven Nachahmungstriebs, pvi_1448.015
auf den wir (§. 919 Anm. 1.) schon zurückgewiesen haben, erwachsen ist; pvi_1448.016
nur hindert dieß nicht, die wirkliche dramatische Poesie als das logisch pvi_1448.017
Voraufgehende hinzustellen, das als bestimmendes Subject eines Ganzen pvi_1448.018
das Element, aus dem es naturalistisch erwachsen ist, sich künstlerisch nachbildet pvi_1448.019
und zu sich heraufnimmt. Wir haben in der Lehre vom Wesen der pvi_1448.020
dramatischen Poesie durchaus die gegenwärtige Lebendigkeit der Handelnden pvi_1448.021
als Grundbegriff aufgestellt und doch die wirkliche Aufführung noch ausgeschlossen. pvi_1448.022
Dieß war wissenschaftlich nöthig, um die Begriffe in ihrem Unterschiede pvi_1448.023
rein zu halten, und die Forderungen der Gattung lassen sich fest pvi_1448.024
begründen, wenn auch nur an die Schaubühne in der Phantasie der Leser pvi_1448.025
gedacht wird. Nun aber ist es Zeit, es auszusprechen, daß hiemit die pvi_1448.026
Gegenwärtigkeit auf dem Puncte der äußersten Reife und Sättigung angekommen pvi_1448.027
ist, wo sie zur äußern werden muß. Die blos innere Schaubühne pvi_1448.028
leidet wieder an den Mängeln der bloßen Phantasie vor der Kunst, pvi_1448.029
für den Leser wie für den Dichter. Wir haben gesagt, es stelle sich der pvi_1448.030
dramatische Charakter mit greiflicher Deutlichkeit vor unser inneres Auge; pvi_1448.031
aber dabei war von dem Maaßstabe der Deutlichkeit abgesehen, den die pvi_1448.032
wirklich sinnliche Erscheinung abgibt. Erst durch diese, erst in der Aufführung pvi_1448.033
erkennt Dichter und Zuschauer die Lücken und Mängel des erst pvi_1448.034
noch innerlichen Phantasiebildes. Die Execution ist dessen Probstein, ja, pvi_1448.035
wie alles Material durch seine festen Bedingungen (vergl. §. 518, 1.), ein pvi_1448.036
auf die Erfindung rückwirkender, durch die an ihm gemachten Erfahrungen pvi_1448.037
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dramatisch, d. h. schlagend, packend ist. Die dramatische Poesie kann nur pvi_1448.041
an einem Orte gedeihen, wo Theater ist. Die Entfremdung von der
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