Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1449.001 Die Schauspielkunst ist blos anhängend, weil sie lebendigen Stoff als pvi_1449.023
pvi_1449.001 Die Schauspielkunst ist blos anhängend, weil sie lebendigen Stoff als pvi_1449.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0311" n="1449"/><lb n="pvi_1449.001"/> Bühne, die Einschließung in die Studirstube und an den Theetisch hat uns, <lb n="pvi_1449.002"/> und zwar vor Allem uns innerliche Deutsche, mit der Fluth der bloßen <lb n="pvi_1449.003"/> <hi rendition="#g">Lesedramen</hi> beschenkt. So nennen wir das Drama, das entweder Seelenleben <lb n="pvi_1449.004"/> mit zu wenig Handlung darstellt oder Handlung in rascher, abgebrochener, <lb n="pvi_1449.005"/> die äußern Bedingungen der Bühne überspringender Folge, oder <lb n="pvi_1449.006"/> beides mischt, wie Göthe's Faust. Es wird immer solche Dramen geben und <lb n="pvi_1449.007"/> darf sie geben; die Poesie hat Manches dramatisch zu sagen, was sich den <lb n="pvi_1449.008"/> Schranken und der Flüssigkeit der Bühnendarstellung nicht fügt, aber das <lb n="pvi_1449.009"/> Ueberhandnehmen dieser Gattung weist bedenklich auf den Ueberschuß an <lb n="pvi_1449.010"/> Reflexion in unserer Zeit. Das reale Leben des Drama's schwankt aber um <lb n="pvi_1449.011"/> den Pol, auf welchem geistige Tiefe und Bühnenhaftigkeit zusammenfallen, so, <lb n="pvi_1449.012"/> daß nicht weniger massenhaft auf dem andern Extrem eine Literatur sich ausbreitet, <lb n="pvi_1449.013"/> die auf Kosten der geistigen Tiefe bühnenhaft wirkt, und hier besonders <lb n="pvi_1449.014"/> ist der schwache Punct dieser Dicht-Art, wie die epische den ihrigen in der <lb n="pvi_1449.015"/> platten Unterhaltungsliteratur und in der ermüdenden didaktischen Breite hat. <lb n="pvi_1449.016"/> Die Kräfte sind so vertheilt, daß tiefere Geister oft nicht verstehen, was wirkt, <lb n="pvi_1449.017"/> und die Andern, die es verstehen, keine Tiefe, keinen Gehalt haben. Doch <lb n="pvi_1449.018"/> auch hier muß man billig sein; auch Bühnendramen ohne bleibenden Anspruch <lb n="pvi_1449.019"/> an Gediegenheit des Textes muß und darf es immer geben, die Fürsten <lb n="pvi_1449.020"/> müssen ihr Gefolge haben, die Bühne will leben und kann nicht lauter <lb n="pvi_1449.021"/> Classisches auf ihr Repertoire setzen.</hi> </p> <lb n="pvi_1449.022"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Schauspielkunst ist blos anhängend, weil sie lebendigen Stoff als <lb n="pvi_1449.023"/> Material verwendet (§. 490). Es ist derselbe Stoff wie in der darstellenden <lb n="pvi_1449.024"/> Gymnastik und der Orchestik, nämlich die eigene Person des Darstellenden, <lb n="pvi_1449.025"/> zwar in ungleich größerem Umfang und ungleich vielfältigerer, <lb n="pvi_1449.026"/> geistigerer Anwendung ihrer Ausdrucksmittel, als in diesen Künsten, aber <lb n="pvi_1449.027"/> nur um so fühlbarer den Störungen, Zufällen, Unangemessenheiten des <lb n="pvi_1449.028"/> Naturschönen ausgesetzt: dieselbe Gestalt, Stimme, Physiognomie soll abwechselnd <lb n="pvi_1449.029"/> für die verschiedensten Charaktere als Material dienen, die Person <lb n="pvi_1449.030"/> ist dabei abhängig von ihren Stimmungen, Körperzuständen u. s. w. Ja die <lb n="pvi_1449.031"/> ungleich tiefere und ausgedehntere Bedeutung, worin hier die eigene Person <lb n="pvi_1449.032"/> als Darstellungsmittel verwendet wird, ist gerade der Grund, warum der <lb n="pvi_1449.033"/> Schauspielerstand so lange gegen die öffentliche Mißachtung zu ringen <lb n="pvi_1449.034"/> hatte: denn um jederlei Ausdruck an seiner Gestalt zu zeigen, muß sich <lb n="pvi_1449.035"/> der Mimiker in jederlei Charakter und Stimmung künstlich versetzen, muß <lb n="pvi_1449.036"/> den Zustand, in den er sich so versetzt hat, durch den vollen Schein <lb n="pvi_1449.037"/> äußerer Zeichen darstellen, die sonst durchaus unwillkürlich und unbewußt <lb n="pvi_1449.038"/> den wirklichen, nicht nachgeahmten Zustand begleiten, und so liegt es nahe, <lb n="pvi_1449.039"/> den ästhetischen Standpunct mit dem moralischen zu verwechseln, den Künstler <lb n="pvi_1449.040"/> als handwerksmäßigen Lügner anzusehen, der die Gewohnheit, Stimmungen <lb n="pvi_1449.041"/> auszudrücken, in die er sich nur mit Absicht hineinversetzt, auch auf sein </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1449/0311]
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Bühne, die Einschließung in die Studirstube und an den Theetisch hat uns, pvi_1449.002
und zwar vor Allem uns innerliche Deutsche, mit der Fluth der bloßen pvi_1449.003
Lesedramen beschenkt. So nennen wir das Drama, das entweder Seelenleben pvi_1449.004
mit zu wenig Handlung darstellt oder Handlung in rascher, abgebrochener, pvi_1449.005
die äußern Bedingungen der Bühne überspringender Folge, oder pvi_1449.006
beides mischt, wie Göthe's Faust. Es wird immer solche Dramen geben und pvi_1449.007
darf sie geben; die Poesie hat Manches dramatisch zu sagen, was sich den pvi_1449.008
Schranken und der Flüssigkeit der Bühnendarstellung nicht fügt, aber das pvi_1449.009
Ueberhandnehmen dieser Gattung weist bedenklich auf den Ueberschuß an pvi_1449.010
Reflexion in unserer Zeit. Das reale Leben des Drama's schwankt aber um pvi_1449.011
den Pol, auf welchem geistige Tiefe und Bühnenhaftigkeit zusammenfallen, so, pvi_1449.012
daß nicht weniger massenhaft auf dem andern Extrem eine Literatur sich ausbreitet, pvi_1449.013
die auf Kosten der geistigen Tiefe bühnenhaft wirkt, und hier besonders pvi_1449.014
ist der schwache Punct dieser Dicht-Art, wie die epische den ihrigen in der pvi_1449.015
platten Unterhaltungsliteratur und in der ermüdenden didaktischen Breite hat. pvi_1449.016
Die Kräfte sind so vertheilt, daß tiefere Geister oft nicht verstehen, was wirkt, pvi_1449.017
und die Andern, die es verstehen, keine Tiefe, keinen Gehalt haben. Doch pvi_1449.018
auch hier muß man billig sein; auch Bühnendramen ohne bleibenden Anspruch pvi_1449.019
an Gediegenheit des Textes muß und darf es immer geben, die Fürsten pvi_1449.020
müssen ihr Gefolge haben, die Bühne will leben und kann nicht lauter pvi_1449.021
Classisches auf ihr Repertoire setzen.
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Die Schauspielkunst ist blos anhängend, weil sie lebendigen Stoff als pvi_1449.023
Material verwendet (§. 490). Es ist derselbe Stoff wie in der darstellenden pvi_1449.024
Gymnastik und der Orchestik, nämlich die eigene Person des Darstellenden, pvi_1449.025
zwar in ungleich größerem Umfang und ungleich vielfältigerer, pvi_1449.026
geistigerer Anwendung ihrer Ausdrucksmittel, als in diesen Künsten, aber pvi_1449.027
nur um so fühlbarer den Störungen, Zufällen, Unangemessenheiten des pvi_1449.028
Naturschönen ausgesetzt: dieselbe Gestalt, Stimme, Physiognomie soll abwechselnd pvi_1449.029
für die verschiedensten Charaktere als Material dienen, die Person pvi_1449.030
ist dabei abhängig von ihren Stimmungen, Körperzuständen u. s. w. Ja die pvi_1449.031
ungleich tiefere und ausgedehntere Bedeutung, worin hier die eigene Person pvi_1449.032
als Darstellungsmittel verwendet wird, ist gerade der Grund, warum der pvi_1449.033
Schauspielerstand so lange gegen die öffentliche Mißachtung zu ringen pvi_1449.034
hatte: denn um jederlei Ausdruck an seiner Gestalt zu zeigen, muß sich pvi_1449.035
der Mimiker in jederlei Charakter und Stimmung künstlich versetzen, muß pvi_1449.036
den Zustand, in den er sich so versetzt hat, durch den vollen Schein pvi_1449.037
äußerer Zeichen darstellen, die sonst durchaus unwillkürlich und unbewußt pvi_1449.038
den wirklichen, nicht nachgeahmten Zustand begleiten, und so liegt es nahe, pvi_1449.039
den ästhetischen Standpunct mit dem moralischen zu verwechseln, den Künstler pvi_1449.040
als handwerksmäßigen Lügner anzusehen, der die Gewohnheit, Stimmungen pvi_1449.041
auszudrücken, in die er sich nur mit Absicht hineinversetzt, auch auf sein
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