Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1458.001 §. 924. pvi_1458.002Am nächsten der reinen Poesie steht die Satyre. Sie unterscheidet sich pvi_1458.003 Wir stellen die Satyre vor das Didaktische, da der Gang, der sich pvi_1458.014 pvi_1458.001 §. 924. pvi_1458.002Am nächsten der reinen Poesie steht die Satyre. Sie unterscheidet sich pvi_1458.003 Wir stellen die Satyre vor das Didaktische, da der Gang, der sich pvi_1458.014 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0320" n="1458"/> </div> <div n="2"> <lb n="pvi_1458.001"/> <p> <hi rendition="#c">§. 924.</hi> </p> <lb n="pvi_1458.002"/> <p> Am nächsten der reinen Poesie steht die <hi rendition="#g">Satyre.</hi> Sie unterscheidet sich <lb n="pvi_1458.003"/> innerhalb ihres allgemein negativen Charakters in eine negative, indirecte und <lb n="pvi_1458.004"/> eine positive, directe. Beide wenden komische Mittel an, die erstere aber erhebt <lb n="pvi_1458.005"/> sich je nach Geist und Stimmung in das Gebiet der rein ästhetischen Komik <lb n="pvi_1458.006"/> (vergl. §. 547). Sie folgt in ihren bestimmteren Bildungen den Gebieten der <lb n="pvi_1458.007"/> reinen Poesie, liebt, wie die verwandte Richtung der Malerei (vergl. §. 742), <lb n="pvi_1458.008"/> die Caricatur und erzeugt auf diesem Wege komische Gegenbilder der großen <lb n="pvi_1458.009"/> Hauptzweige (bei speziellerer Richtung auf die Form <hi rendition="#g">Parodie</hi> und <hi rendition="#g">Travestie</hi>). <lb n="pvi_1458.010"/> Die zweite Art der Satyre ist prosaischer und versinkt in das Dürftige und <lb n="pvi_1458.011"/> Gemeine, wenn sie nicht, obwohl zunächst immer auf Einzelnes gerichtet, in das <lb n="pvi_1458.012"/> Allgemeine und Große geht und aus dem Pathos der Jdee fließt.</p> <lb n="pvi_1458.013"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir stellen die Satyre vor das Didaktische, da der Gang, der sich <lb n="pvi_1458.014"/> schrittweise vom rein Aesthetischen entfernt, hier der natürlichere ist. Es <lb n="pvi_1458.015"/> kann nicht auffallen, wenn der Grund ihres engeren Verhältnisses zur <lb n="pvi_1458.016"/> ächten Poesie in die Negativität ihres Verhaltens gesetzt wird; denn negativ <lb n="pvi_1458.017"/> ist seinem Wesen nach das ganze Gebiet der komischen Dichtung, an welches <lb n="pvi_1458.018"/> sich die Satyre lehnt, sofern alles Komische das Bewußtsein des wahren Verhältnisses <lb n="pvi_1458.019"/> von Jdee und Bild aus dem schlagenden Widerspruche seiner Verkehrung, <lb n="pvi_1458.020"/> also durch eine Negation erzeugt. Der Unterschied, wie er schon bei <lb n="pvi_1458.021"/> Betrachtung der Caricatur in der Malerei (§. 742, Anm. 1.) hervorgehoben ist, <lb n="pvi_1458.022"/> beruht darin, daß die Phantasie in Erzeugung des rein Komischen dennoch <lb n="pvi_1458.023"/> naiv, harmlos zu Werke geht, also das <hi rendition="#g">Verfahren</hi> positiv ist, während die <lb n="pvi_1458.024"/> Satyre, geführt von stoffartigem Unwillen gegen die verkehrte Wirklichkeit, an <lb n="pvi_1458.025"/> die sie mit Bewußtsein den Maaßstab der Jdee hält, auch in der Grundstimmung <lb n="pvi_1458.026"/> ihres Verfahrens negativ ist. Hier aber macht sich ein Unterschied <lb n="pvi_1458.027"/> geltend: eine im engeren Sinne negative Form stellt sich mit entschiedenem <lb n="pvi_1458.028"/> Anspruch auf höheren poetischen Werth neben eine solche, die, <lb n="pvi_1458.029"/> unbeschadet der negativen Natur des ganzen Gebietes, also nur beziehungsweise <lb n="pvi_1458.030"/> positiv verfährt und prosaischer ist. Man bezeichnet den Unterschied <lb n="pvi_1458.031"/> gewöhnlich als den der lachenden, harmlosen und der strafenden, scharfen <lb n="pvi_1458.032"/> Satyre. Der Sprachgebrauch ist nicht passend; die negative oder indirecte <lb n="pvi_1458.033"/> Satyre ist immer gewaltsamer, als es scheint, und geht zu sichtbar gewaltsamer <lb n="pvi_1458.034"/> Form über, und die directe, positive Satyre kann auch mild predigen. <lb n="pvi_1458.035"/> Es fragt sich nun, wie und warum die erstere der reinen Komik näher <lb n="pvi_1458.036"/> steht. Zunächst, wenn man nicht die Grenze zwischen dieser und der <lb n="pvi_1458.037"/> Satyre verwischen will, muß man als das Spezifische der letzteren jene <lb n="pvi_1458.038"/> Grundlage des Unwillens, der Bitterkeit gegen die Welt, die dem Maaßstabe <lb n="pvi_1458.039"/> der Jdee widerspricht, die unpoetische Grundstimmung festhalten. So </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1458/0320]
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§. 924.
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Am nächsten der reinen Poesie steht die Satyre. Sie unterscheidet sich pvi_1458.003
innerhalb ihres allgemein negativen Charakters in eine negative, indirecte und pvi_1458.004
eine positive, directe. Beide wenden komische Mittel an, die erstere aber erhebt pvi_1458.005
sich je nach Geist und Stimmung in das Gebiet der rein ästhetischen Komik pvi_1458.006
(vergl. §. 547). Sie folgt in ihren bestimmteren Bildungen den Gebieten der pvi_1458.007
reinen Poesie, liebt, wie die verwandte Richtung der Malerei (vergl. §. 742), pvi_1458.008
die Caricatur und erzeugt auf diesem Wege komische Gegenbilder der großen pvi_1458.009
Hauptzweige (bei speziellerer Richtung auf die Form Parodie und Travestie). pvi_1458.010
Die zweite Art der Satyre ist prosaischer und versinkt in das Dürftige und pvi_1458.011
Gemeine, wenn sie nicht, obwohl zunächst immer auf Einzelnes gerichtet, in das pvi_1458.012
Allgemeine und Große geht und aus dem Pathos der Jdee fließt.
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Wir stellen die Satyre vor das Didaktische, da der Gang, der sich pvi_1458.014
schrittweise vom rein Aesthetischen entfernt, hier der natürlichere ist. Es pvi_1458.015
kann nicht auffallen, wenn der Grund ihres engeren Verhältnisses zur pvi_1458.016
ächten Poesie in die Negativität ihres Verhaltens gesetzt wird; denn negativ pvi_1458.017
ist seinem Wesen nach das ganze Gebiet der komischen Dichtung, an welches pvi_1458.018
sich die Satyre lehnt, sofern alles Komische das Bewußtsein des wahren Verhältnisses pvi_1458.019
von Jdee und Bild aus dem schlagenden Widerspruche seiner Verkehrung, pvi_1458.020
also durch eine Negation erzeugt. Der Unterschied, wie er schon bei pvi_1458.021
Betrachtung der Caricatur in der Malerei (§. 742, Anm. 1.) hervorgehoben ist, pvi_1458.022
beruht darin, daß die Phantasie in Erzeugung des rein Komischen dennoch pvi_1458.023
naiv, harmlos zu Werke geht, also das Verfahren positiv ist, während die pvi_1458.024
Satyre, geführt von stoffartigem Unwillen gegen die verkehrte Wirklichkeit, an pvi_1458.025
die sie mit Bewußtsein den Maaßstab der Jdee hält, auch in der Grundstimmung pvi_1458.026
ihres Verfahrens negativ ist. Hier aber macht sich ein Unterschied pvi_1458.027
geltend: eine im engeren Sinne negative Form stellt sich mit entschiedenem pvi_1458.028
Anspruch auf höheren poetischen Werth neben eine solche, die, pvi_1458.029
unbeschadet der negativen Natur des ganzen Gebietes, also nur beziehungsweise pvi_1458.030
positiv verfährt und prosaischer ist. Man bezeichnet den Unterschied pvi_1458.031
gewöhnlich als den der lachenden, harmlosen und der strafenden, scharfen pvi_1458.032
Satyre. Der Sprachgebrauch ist nicht passend; die negative oder indirecte pvi_1458.033
Satyre ist immer gewaltsamer, als es scheint, und geht zu sichtbar gewaltsamer pvi_1458.034
Form über, und die directe, positive Satyre kann auch mild predigen. pvi_1458.035
Es fragt sich nun, wie und warum die erstere der reinen Komik näher pvi_1458.036
steht. Zunächst, wenn man nicht die Grenze zwischen dieser und der pvi_1458.037
Satyre verwischen will, muß man als das Spezifische der letzteren jene pvi_1458.038
Grundlage des Unwillens, der Bitterkeit gegen die Welt, die dem Maaßstabe pvi_1458.039
der Jdee widerspricht, die unpoetische Grundstimmung festhalten. So
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