Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1457.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0319" n="1457"/><lb n="pvi_1457.001"/> knüpfen, ist so zart, daß sie nur im Einzelnen am concreten Kunstwerk aufgedeckt <lb n="pvi_1457.002"/> werden kann. Daß wir den Werth der Formen, welche hier noch <lb n="pvi_1457.003"/> zu betrachten sind, darum nicht überhaupt heruntersetzen wollen, weil wir <lb n="pvi_1457.004"/> sie, wenn der rein ästhetische Maaßstab angelegt wird, als blos anhängende <lb n="pvi_1457.005"/> bestimmen, dieß ist bereits in §. 742, Anm. 1. ausgesprochen, wo von den <lb n="pvi_1457.006"/> verwandten Seitenzweigen der Malerei die Rede war, der einzigen Kunst, <lb n="pvi_1457.007"/> welche mit der Poesie den Uebergang in ein gemischtes Grenzgebiet von so <lb n="pvi_1457.008"/> großer Ausdehnung und Fülle theilt. Das ästhetische Urtheil zieht seine <lb n="pvi_1457.009"/> Strenge zurück, sobald nur zugestanden wird, daß das Gemischte eben nur <lb n="pvi_1457.010"/> gemischt ist; das Leben ist reich an Formen und gerne leiht die eine der <lb n="pvi_1457.011"/> andern ihre Mittel. Satyre und Didaktik nebst Rhetorik gehören zu den <lb n="pvi_1457.012"/> gewaltigsten Hebeln des ethischen, politischen Lebens und die Bewegung der <lb n="pvi_1457.013"/> Geschichte wäre ohne sie nicht zu denken. Jhr Wesen und ihre reichen, <lb n="pvi_1457.014"/> gerade durch ihre gemischte Natur schwierigen Formen sind daher der gründlichsten <lb n="pvi_1457.015"/> Untersuchung werth, aber in gesonderter Behandlung oder als Anhang <lb n="pvi_1457.016"/> einer Poetik; die Aesthetik ist durch den großen Umfang ihres Ganzen <lb n="pvi_1457.017"/> zur Kürze genöthigt. Daß aber dieses Gebiet nur einen Anhang der Lehre <lb n="pvi_1457.018"/> von der Poesie, nicht einen Theil derselben bilden kann, bedarf längst keines <lb n="pvi_1457.019"/> Beweises mehr; eher wäre es der Mühe werth, zu erklären, wie es kam, <lb n="pvi_1457.020"/> daß man so lange die grobe logische Sünde der Eintheilungen übersehen <lb n="pvi_1457.021"/> konnte, die das Didaktische und Verwandte dem Epischen, Lyrischen, Dramatischen <lb n="pvi_1457.022"/> coordinirten. Schon der erste Blick zeigt, daß eine Erscheinung, <lb n="pvi_1457.023"/> welche, außer andern, unbestimmteren Formen, wechselnd die Gestalt des <lb n="pvi_1457.024"/> einen oder andern dieser drei Zweige annimmt, nicht einen Zweig neben <lb n="pvi_1457.025"/> denselben bilden kann. Der innerste Grund lag in der Verkennung des <lb n="pvi_1457.026"/> reinen Wesens der Poesie; diese geistigste aller Künste, die als solche am <lb n="pvi_1457.027"/> nächsten an dem Gebiete der Prosa liegt, verbarg dem noch ungeübten Auge <lb n="pvi_1457.028"/> den unendlichen Unterschied des Wahren, das ganz in reinen Schein verwandelt <lb n="pvi_1457.029"/> ist, von dem Wahren, das sich nur nebenher mit dem Scheine <lb n="pvi_1457.030"/> bekleidet. Man sah, wie die Dichtkunst nach allen Seiten vielfacher und <lb n="pvi_1457.031"/> massenhafter, als es irgend einer andern Kunst möglich ist, in dieß gemischte <lb n="pvi_1457.032"/> Gebiet übergeht, und man übersah die feine, aber scharfe Linie, welche auf <lb n="pvi_1457.033"/> allen Puncten dieses Austretens überschritten wird. – Uebrigens ergibt sich <lb n="pvi_1457.034"/> nun (vergl. §. 546. 547) eine merkwürdige Parallele mit derjenigen Kunst, <lb n="pvi_1457.035"/> welche, die entfernteste von der Poesie, am Eingange des Systems der <lb n="pvi_1457.036"/> Künste liegt, mit der Architektur. Wie jene mit dem ethischen Gebiete, so <lb n="pvi_1457.037"/> ist diese mit dem des Zweckmäßigen durch die engsten Bande verflochten. <lb n="pvi_1457.038"/> So mündet die Kunst an ihrem Anfangs- und Endpuncte in das außerästhetische <lb n="pvi_1457.039"/> Gebiet: dort erhebt sich ihre Basis auf dem breiten Boden des <lb n="pvi_1457.040"/> praktischen Bedürfnisses, hier streckt sich ihr Gipfel in die Luft der schmucklosen <lb n="pvi_1457.041"/> Wahrheit.</hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1457/0319]
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knüpfen, ist so zart, daß sie nur im Einzelnen am concreten Kunstwerk aufgedeckt pvi_1457.002
werden kann. Daß wir den Werth der Formen, welche hier noch pvi_1457.003
zu betrachten sind, darum nicht überhaupt heruntersetzen wollen, weil wir pvi_1457.004
sie, wenn der rein ästhetische Maaßstab angelegt wird, als blos anhängende pvi_1457.005
bestimmen, dieß ist bereits in §. 742, Anm. 1. ausgesprochen, wo von den pvi_1457.006
verwandten Seitenzweigen der Malerei die Rede war, der einzigen Kunst, pvi_1457.007
welche mit der Poesie den Uebergang in ein gemischtes Grenzgebiet von so pvi_1457.008
großer Ausdehnung und Fülle theilt. Das ästhetische Urtheil zieht seine pvi_1457.009
Strenge zurück, sobald nur zugestanden wird, daß das Gemischte eben nur pvi_1457.010
gemischt ist; das Leben ist reich an Formen und gerne leiht die eine der pvi_1457.011
andern ihre Mittel. Satyre und Didaktik nebst Rhetorik gehören zu den pvi_1457.012
gewaltigsten Hebeln des ethischen, politischen Lebens und die Bewegung der pvi_1457.013
Geschichte wäre ohne sie nicht zu denken. Jhr Wesen und ihre reichen, pvi_1457.014
gerade durch ihre gemischte Natur schwierigen Formen sind daher der gründlichsten pvi_1457.015
Untersuchung werth, aber in gesonderter Behandlung oder als Anhang pvi_1457.016
einer Poetik; die Aesthetik ist durch den großen Umfang ihres Ganzen pvi_1457.017
zur Kürze genöthigt. Daß aber dieses Gebiet nur einen Anhang der Lehre pvi_1457.018
von der Poesie, nicht einen Theil derselben bilden kann, bedarf längst keines pvi_1457.019
Beweises mehr; eher wäre es der Mühe werth, zu erklären, wie es kam, pvi_1457.020
daß man so lange die grobe logische Sünde der Eintheilungen übersehen pvi_1457.021
konnte, die das Didaktische und Verwandte dem Epischen, Lyrischen, Dramatischen pvi_1457.022
coordinirten. Schon der erste Blick zeigt, daß eine Erscheinung, pvi_1457.023
welche, außer andern, unbestimmteren Formen, wechselnd die Gestalt des pvi_1457.024
einen oder andern dieser drei Zweige annimmt, nicht einen Zweig neben pvi_1457.025
denselben bilden kann. Der innerste Grund lag in der Verkennung des pvi_1457.026
reinen Wesens der Poesie; diese geistigste aller Künste, die als solche am pvi_1457.027
nächsten an dem Gebiete der Prosa liegt, verbarg dem noch ungeübten Auge pvi_1457.028
den unendlichen Unterschied des Wahren, das ganz in reinen Schein verwandelt pvi_1457.029
ist, von dem Wahren, das sich nur nebenher mit dem Scheine pvi_1457.030
bekleidet. Man sah, wie die Dichtkunst nach allen Seiten vielfacher und pvi_1457.031
massenhafter, als es irgend einer andern Kunst möglich ist, in dieß gemischte pvi_1457.032
Gebiet übergeht, und man übersah die feine, aber scharfe Linie, welche auf pvi_1457.033
allen Puncten dieses Austretens überschritten wird. – Uebrigens ergibt sich pvi_1457.034
nun (vergl. §. 546. 547) eine merkwürdige Parallele mit derjenigen Kunst, pvi_1457.035
welche, die entfernteste von der Poesie, am Eingange des Systems der pvi_1457.036
Künste liegt, mit der Architektur. Wie jene mit dem ethischen Gebiete, so pvi_1457.037
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So mündet die Kunst an ihrem Anfangs- und Endpuncte in das außerästhetische pvi_1457.039
Gebiet: dort erhebt sich ihre Basis auf dem breiten Boden des pvi_1457.040
praktischen Bedürfnisses, hier streckt sich ihr Gipfel in die Luft der schmucklosen pvi_1457.041
Wahrheit.
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