Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1464.001 2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen pvi_1464.023
pvi_1464.001 2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen pvi_1464.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0326" n="1464"/><lb n="pvi_1464.001"/> das Drama ursprünglich vermeintliche Geschichte, absolute Geschichte, Glaubensgehalt <lb n="pvi_1464.002"/> als Thatsache dargestellt und das moderne Schauspiel ist aus den <lb n="pvi_1464.003"/> Mysterien, wie das antike aus den Dionysischen Fest-Aufführungen, hervorgegangen; <lb n="pvi_1464.004"/> die geistlichen Dramen der entwickelten Kunstpoesie aber, wie sie <lb n="pvi_1464.005"/> eigentlich nur in Spanien (<hi rendition="#aq">vidas de Santos</hi> und <hi rendition="#aq">autos sacramentales</hi>) geblüht <lb n="pvi_1464.006"/> haben, weben zwar den christlichen Mythus in menschliches Leben, Schuld <lb n="pvi_1464.007"/> und Schicksal ein, entziehen aber diesem die rein menschliche Wahrheit und <lb n="pvi_1464.008"/> Sympathie und sind wirklich Nachkommen der Mysterien bei einem bigotten <lb n="pvi_1464.009"/> Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poesie als ächte, des Bleibens <lb n="pvi_1464.010"/> werthe Formen finden können. Wir haben sie bereits als Spezialitäten bezeichnet. <lb n="pvi_1464.011"/> – Eigentlich könnten wir nun zu der elementarischen, großartig unbefangenen <lb n="pvi_1464.012"/> Lehrpoesie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunstdichtung <lb n="pvi_1464.013"/> überlieferte Gnomische, alle poetisch vorgetragene, noch immer an den religiösen <lb n="pvi_1464.014"/> Glauben geknüpfte ethische Wahrheit ziehen: einen Theil der sogenannten <lb n="pvi_1464.015"/> Orphischen Poesie, die Sprüche der sieben Weisen, das entsprechende Orientalische, <lb n="pvi_1464.016"/> wie es in poetischer Spruchform sich durch die Religionsbücher der <lb n="pvi_1464.017"/> Jnder und Perser zieht, älteste deutsche Spruchweisheit; allein wo immer <lb n="pvi_1464.018"/> Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche <lb n="pvi_1464.019"/> Thatsache vorgetragen wird, ist die wirkliche Scheidung von Jdee und Bild <lb n="pvi_1464.020"/> vorhanden und spricht sich denn auch in der Zerstücklung des Vorgetragenen, <lb n="pvi_1464.021"/> der Einzelheit der Sätze aus.</hi> </p> <lb n="pvi_1464.022"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen <lb n="pvi_1464.023"/> und Mischungsformen zwischen den beiden Enden: der organisch bildenden <lb n="pvi_1464.024"/> Phantasie und dem die ästhetischen Elemente nur äußerlich verknüpfenden <lb n="pvi_1464.025"/> Verfahren gibt. Die didaktische Poesie geht immer vom geistigen Jnhalt <lb n="pvi_1464.026"/> aus und von da erst zum Bilde fort; sie unterscheidet sich von der satyrischen <lb n="pvi_1464.027"/> dadurch, daß sie zwar voraussetzt, das Leben entspreche noch nicht dem, <lb n="pvi_1464.028"/> was es sein soll, der Jdee, aber es bei der bloßen Voraussetzung beläßt, <lb n="pvi_1464.029"/> nicht die Anschauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt. <lb n="pvi_1464.030"/> Es fehlt ihr daher die Leidenschaft, welche die Phantasie zu jenem negativen, <lb n="pvi_1464.031"/> komischen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen <lb n="pvi_1464.032"/> Seite belebt sich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueberzeugung <lb n="pvi_1464.033"/> und Gesinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein <lb n="pvi_1464.034"/> Anschauungsbild an die Jdee, welche den Lehrgehalt bildet, anschießen und <lb n="pvi_1464.035"/> innig damit zusammenwachsen, so daß die Lehre als das <hi rendition="#aq">posterius</hi> erscheint, <lb n="pvi_1464.036"/> das nur so von selbst aus der Anschauung hervorspringt. Dieß liegt denn <lb n="pvi_1464.037"/> am reinsten vor in den Formen, die sich an die <hi rendition="#g">epische</hi> Dichtung anschließen. <lb n="pvi_1464.038"/> Das <hi rendition="#g">Beispiel</hi> (nicht im mittelhochdeutschen Sinne, wo es Fabel und <lb n="pvi_1464.039"/> jede didaktische Erzählung bedeutet, sondern im gewöhnlichen modernen Sprachgebrauche <lb n="pvi_1464.040"/> verstanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine <lb n="pvi_1464.041"/> Erscheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin diese Wahrheit real </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1464/0326]
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das Drama ursprünglich vermeintliche Geschichte, absolute Geschichte, Glaubensgehalt pvi_1464.002
als Thatsache dargestellt und das moderne Schauspiel ist aus den pvi_1464.003
Mysterien, wie das antike aus den Dionysischen Fest-Aufführungen, hervorgegangen; pvi_1464.004
die geistlichen Dramen der entwickelten Kunstpoesie aber, wie sie pvi_1464.005
eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht pvi_1464.006
haben, weben zwar den christlichen Mythus in menschliches Leben, Schuld pvi_1464.007
und Schicksal ein, entziehen aber diesem die rein menschliche Wahrheit und pvi_1464.008
Sympathie und sind wirklich Nachkommen der Mysterien bei einem bigotten pvi_1464.009
Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poesie als ächte, des Bleibens pvi_1464.010
werthe Formen finden können. Wir haben sie bereits als Spezialitäten bezeichnet. pvi_1464.011
– Eigentlich könnten wir nun zu der elementarischen, großartig unbefangenen pvi_1464.012
Lehrpoesie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunstdichtung pvi_1464.013
überlieferte Gnomische, alle poetisch vorgetragene, noch immer an den religiösen pvi_1464.014
Glauben geknüpfte ethische Wahrheit ziehen: einen Theil der sogenannten pvi_1464.015
Orphischen Poesie, die Sprüche der sieben Weisen, das entsprechende Orientalische, pvi_1464.016
wie es in poetischer Spruchform sich durch die Religionsbücher der pvi_1464.017
Jnder und Perser zieht, älteste deutsche Spruchweisheit; allein wo immer pvi_1464.018
Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche pvi_1464.019
Thatsache vorgetragen wird, ist die wirkliche Scheidung von Jdee und Bild pvi_1464.020
vorhanden und spricht sich denn auch in der Zerstücklung des Vorgetragenen, pvi_1464.021
der Einzelheit der Sätze aus.
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2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen pvi_1464.023
und Mischungsformen zwischen den beiden Enden: der organisch bildenden pvi_1464.024
Phantasie und dem die ästhetischen Elemente nur äußerlich verknüpfenden pvi_1464.025
Verfahren gibt. Die didaktische Poesie geht immer vom geistigen Jnhalt pvi_1464.026
aus und von da erst zum Bilde fort; sie unterscheidet sich von der satyrischen pvi_1464.027
dadurch, daß sie zwar voraussetzt, das Leben entspreche noch nicht dem, pvi_1464.028
was es sein soll, der Jdee, aber es bei der bloßen Voraussetzung beläßt, pvi_1464.029
nicht die Anschauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt. pvi_1464.030
Es fehlt ihr daher die Leidenschaft, welche die Phantasie zu jenem negativen, pvi_1464.031
komischen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen pvi_1464.032
Seite belebt sich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueberzeugung pvi_1464.033
und Gesinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein pvi_1464.034
Anschauungsbild an die Jdee, welche den Lehrgehalt bildet, anschießen und pvi_1464.035
innig damit zusammenwachsen, so daß die Lehre als das posterius erscheint, pvi_1464.036
das nur so von selbst aus der Anschauung hervorspringt. Dieß liegt denn pvi_1464.037
am reinsten vor in den Formen, die sich an die epische Dichtung anschließen. pvi_1464.038
Das Beispiel (nicht im mittelhochdeutschen Sinne, wo es Fabel und pvi_1464.039
jede didaktische Erzählung bedeutet, sondern im gewöhnlichen modernen Sprachgebrauche pvi_1464.040
verstanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine pvi_1464.041
Erscheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin diese Wahrheit real
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