Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1465.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0327" n="1465"/><lb n="pvi_1465.001"/> geworden ist oder immer auf's Neue wird; es gehört eigentlich ganz in <lb n="pvi_1465.002"/> die Prosa und wird hier nur erwähnt als belehrende Stufe der Leiter, die <lb n="pvi_1465.003"/> von da zur Parabel und Fabel führt. Jdee und Bild fallen in dieser einfachen <lb n="pvi_1465.004"/> Form gar nicht und ebensosehr ganz auseinander: gar nicht, weil <lb n="pvi_1465.005"/> die angeführte Erscheinung eigentliche Wirklichkeit der vorgetragenen Wahrheit <lb n="pvi_1465.006"/> ist, ganz, weil diese Wahrheit in unbestimmt vielen andern Erscheinungen <lb n="pvi_1465.007"/> ebenfalls wirklich ist, woraus sogleich folgt, daß doch die Wahrheit, <lb n="pvi_1465.008"/> der allgemeine Begriff und das zu seinem Belege beigebrachte Einzelne sich <lb n="pvi_1465.009"/> nicht decken, denn sind deren viele, worin jener realisirt ist, so sind es auch <lb n="pvi_1465.010"/> vielerlei (verschieden nicht wie Jndividuen einer Gattung, sondern Jndividuen <lb n="pvi_1465.011"/> aus verschiedenen Gattungen), so sind in ihnen auch noch andere <lb n="pvi_1465.012"/> Wahrheiten wirklich; die Güte eines Beispiels besteht nur darin, daß die <lb n="pvi_1465.013"/> vorgetragene Wahrheit den wesentlichsten unter den Zügen des angeführten <lb n="pvi_1465.014"/> Wirklichen bildet. Die <hi rendition="#g">Parabel</hi> dagegen <hi rendition="#g">fingirt</hi> einen Hergang für <lb n="pvi_1465.015"/> ihren Zweck, hebt als Band zwischen ihm und der Wahrheit, die sie vortragen <lb n="pvi_1465.016"/> will, das <hi rendition="#aq">tertium comparationis</hi> heraus und knüpft an dieses die letztere. <lb n="pvi_1465.017"/> Hat sie sich ihren Fall erfunden, so ist er eben ganz auf dieß <hi rendition="#aq">tertium</hi> angelegt, <lb n="pvi_1465.018"/> und daß in solchem Hergang auch noch andere Gesetze, Wahrheiten <lb n="pvi_1465.019"/> liegen können, geht sie gar nichts an. Der Zusammenhang zwischen Jdee <lb n="pvi_1465.020"/> und Bild ist daher loser, als im Beispiel, aber loser im Sinne des Freien, was <lb n="pvi_1465.021"/> sich das zweckmäßigste Anschauungs-Bild selber mit Phantasie schafft, und <lb n="pvi_1465.022"/> ebendadurch straffer. Die Parabel ist demnach eigentlich ein Gleichniß, aber ein <lb n="pvi_1465.023"/> entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes, episch gewordenes Gleichniß und <lb n="pvi_1465.024"/> diese Entwicklung hat ihren Grund darin, daß die vorzutragende Lehre nicht <lb n="pvi_1465.025"/> einfach, sondern vielseitig ist, eine Reihe von belegenden Momenten, eine <lb n="pvi_1465.026"/> Reihe von Vergleichungspuncten fordert (vergl. Babrios Fabeln übersetzt, <lb n="pvi_1465.027"/> nebst einer Abhandlung über die Fabel u. s. w. v. W. Hertzberg S. 93 ff.). <lb n="pvi_1465.028"/> Es ist in der Sache begründet, daß der Parabeldichter am liebsten einen <lb n="pvi_1465.029"/> Vorgang aus der Menschenwelt erdichtet, weil er hier die reichsten Vergleichungspuncte <lb n="pvi_1465.030"/> für seinen vielseitigeren Lehrgehalt findet. Dieser bewegt <lb n="pvi_1465.031"/> sich weniger im untergeordneten Gebiete der Lebensklugheit, als in dem <lb n="pvi_1465.032"/> hohen und ernsten der Ethik; die Parabel ist eine Bilderschrift, welche kindlichen <lb n="pvi_1465.033"/> Menschen erhabene und ehrwürdige, auf die Religion gegründete <lb n="pvi_1465.034"/> Wahrheiten des sittlichen Lebens einprägt und ihren frischen Geist durch <lb n="pvi_1465.035"/> die einleuchtende Zweckmäßigkeit erfreut und erfaßt. Der Lehrgehalt wird <lb n="pvi_1465.036"/> direct ausgesprochen: „das Himmelreich ist gleich“ u. s. w.; der Parabel= <lb n="pvi_1465.037"/> Erzähler gesteht offen, daß das Bild blos Mittel ist; Nathan in der Parabel <lb n="pvi_1465.038"/> von den drei Ringen thut es zwar nicht ausdrücklich, aber es liegt im <lb n="pvi_1465.039"/> Anlasse, daß der Lehrzweck seiner Erzählung kein Geheimniß ist. – Jn der <lb n="pvi_1465.040"/> <hi rendition="#g">Fabel</hi> nun scheint auf den ersten Blick das Verhältniß zwischen dem Bild <lb n="pvi_1465.041"/> und dem Gehalte viel lockerer zu sein, als in der Parabel. Das Gleichniß </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1465/0327]
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geworden ist oder immer auf's Neue wird; es gehört eigentlich ganz in pvi_1465.002
die Prosa und wird hier nur erwähnt als belehrende Stufe der Leiter, die pvi_1465.003
von da zur Parabel und Fabel führt. Jdee und Bild fallen in dieser einfachen pvi_1465.004
Form gar nicht und ebensosehr ganz auseinander: gar nicht, weil pvi_1465.005
die angeführte Erscheinung eigentliche Wirklichkeit der vorgetragenen Wahrheit pvi_1465.006
ist, ganz, weil diese Wahrheit in unbestimmt vielen andern Erscheinungen pvi_1465.007
ebenfalls wirklich ist, woraus sogleich folgt, daß doch die Wahrheit, pvi_1465.008
der allgemeine Begriff und das zu seinem Belege beigebrachte Einzelne sich pvi_1465.009
nicht decken, denn sind deren viele, worin jener realisirt ist, so sind es auch pvi_1465.010
vielerlei (verschieden nicht wie Jndividuen einer Gattung, sondern Jndividuen pvi_1465.011
aus verschiedenen Gattungen), so sind in ihnen auch noch andere pvi_1465.012
Wahrheiten wirklich; die Güte eines Beispiels besteht nur darin, daß die pvi_1465.013
vorgetragene Wahrheit den wesentlichsten unter den Zügen des angeführten pvi_1465.014
Wirklichen bildet. Die Parabel dagegen fingirt einen Hergang für pvi_1465.015
ihren Zweck, hebt als Band zwischen ihm und der Wahrheit, die sie vortragen pvi_1465.016
will, das tertium comparationis heraus und knüpft an dieses die letztere. pvi_1465.017
Hat sie sich ihren Fall erfunden, so ist er eben ganz auf dieß tertium angelegt, pvi_1465.018
und daß in solchem Hergang auch noch andere Gesetze, Wahrheiten pvi_1465.019
liegen können, geht sie gar nichts an. Der Zusammenhang zwischen Jdee pvi_1465.020
und Bild ist daher loser, als im Beispiel, aber loser im Sinne des Freien, was pvi_1465.021
sich das zweckmäßigste Anschauungs-Bild selber mit Phantasie schafft, und pvi_1465.022
ebendadurch straffer. Die Parabel ist demnach eigentlich ein Gleichniß, aber ein pvi_1465.023
entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes, episch gewordenes Gleichniß und pvi_1465.024
diese Entwicklung hat ihren Grund darin, daß die vorzutragende Lehre nicht pvi_1465.025
einfach, sondern vielseitig ist, eine Reihe von belegenden Momenten, eine pvi_1465.026
Reihe von Vergleichungspuncten fordert (vergl. Babrios Fabeln übersetzt, pvi_1465.027
nebst einer Abhandlung über die Fabel u. s. w. v. W. Hertzberg S. 93 ff.). pvi_1465.028
Es ist in der Sache begründet, daß der Parabeldichter am liebsten einen pvi_1465.029
Vorgang aus der Menschenwelt erdichtet, weil er hier die reichsten Vergleichungspuncte pvi_1465.030
für seinen vielseitigeren Lehrgehalt findet. Dieser bewegt pvi_1465.031
sich weniger im untergeordneten Gebiete der Lebensklugheit, als in dem pvi_1465.032
hohen und ernsten der Ethik; die Parabel ist eine Bilderschrift, welche kindlichen pvi_1465.033
Menschen erhabene und ehrwürdige, auf die Religion gegründete pvi_1465.034
Wahrheiten des sittlichen Lebens einprägt und ihren frischen Geist durch pvi_1465.035
die einleuchtende Zweckmäßigkeit erfreut und erfaßt. Der Lehrgehalt wird pvi_1465.036
direct ausgesprochen: „das Himmelreich ist gleich“ u. s. w.; der Parabel= pvi_1465.037
Erzähler gesteht offen, daß das Bild blos Mittel ist; Nathan in der Parabel pvi_1465.038
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Anlasse, daß der Lehrzweck seiner Erzählung kein Geheimniß ist. – Jn der pvi_1465.040
Fabel nun scheint auf den ersten Blick das Verhältniß zwischen dem Bild pvi_1465.041
und dem Gehalte viel lockerer zu sein, als in der Parabel. Das Gleichniß
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