Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1466.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0328" n="1466"/><lb n="pvi_1466.001"/> wird auch in ihr zur Erzählung, diese aber ist Fiction in viel engerem <lb n="pvi_1466.002"/> Sinne, denn sie leiht der unbeseelten Natur, Pflanzen, Bergen, Gewässern, <lb n="pvi_1466.003"/> einzelnen Organen des Körpers, vor Allem aber der Thierwelt Bewußtsein, <lb n="pvi_1466.004"/> Vernunft, Sprache und verlegt so Handlung in ein Gebiet, wo es nach <lb n="pvi_1466.005"/> Naturgesetzen keine gibt, freilich eine Handlung, die dem beobachteten Charakter <lb n="pvi_1466.006"/> der Naturwesen entspricht. Producte der menschlichen Kunst treten ebenfalls <lb n="pvi_1466.007"/> auf und werden wie beseelte Naturwesen aufgefaßt. Lehrhafte Fiction auf <lb n="pvi_1466.008"/> Grundlage der Naturbeobachtung ist also das Wesen der Fabel, nicht blos <lb n="pvi_1466.009"/> der Aesopischen, sondern der Fabel überhaupt. Daß auch geisterhafte Gestalten, <lb n="pvi_1466.010"/> Riesen und Zwerge, Götter, allegorische Personen auftreten, ändert <lb n="pvi_1466.011"/> nichts an diesem Charakter, denn sie werden in diesem Zusammenhange <lb n="pvi_1466.012"/> ganz ähnlich wie typisch einfache Thiercharaktere verwendet; daß sich die <lb n="pvi_1466.013"/> Fabel in Sammlungen jederzeit mit Parabeln gemischt hat, welche mit <lb n="pvi_1466.014"/> ihr unter Einem Namen befaßt werden, kommt nur von der nahen Verwandtschaft <lb n="pvi_1466.015"/> beider Formen und der Ungenauigkeit gewöhnlichen Sprachgebrauchs. <lb n="pvi_1466.016"/> Die Fabel vereinigt also Wunderbarkeit und Natürlichkeit. Die <lb n="pvi_1466.017"/> erstere Eigenschaft scheint denn eine Absichtlichkeit des Bildes, eine Aeußerlichkeit <lb n="pvi_1466.018"/> seiner Beziehung zu seiner Jdee, einen Verlust an Einfachheit und schlichter <lb n="pvi_1466.019"/> Angemessenheit in Vergleich mit der Parabel zu begründen. Allein umgekehrt: <lb n="pvi_1466.020"/> der Vergleichungspunct ist durch die geläufige Einfachheit und Entschiedenheit <lb n="pvi_1466.021"/> der Züge, die von dem Naturwesen entlehnt werden, namentlich <lb n="pvi_1466.022"/> die schlechthin einleuchtende Analogie der allbekannten Thiercharaktere zu <lb n="pvi_1466.023"/> menschlichen Eigenschaften, Gesinnungen, so ganz schlagend, daß er mit <lb n="pvi_1466.024"/> voller Ungesuchtheit hervorspringt. Es ist nur ein unmerkbarer Ruck, der <lb n="pvi_1466.025"/> das Menschenähnliche zum Scheine des wirklich Menschlichen erhebt, ein <lb n="pvi_1466.026"/> augenblickliches scheinbares Ernstmachen aus einer Unterschiebung, die jedes <lb n="pvi_1466.027"/> lebendigen Menschen Phantasie leicht und gern mit den Naturgebilden vornimmt, <lb n="pvi_1466.028"/> am meisten die kindliche, und der Fabel gehört ursprünglich ein <lb n="pvi_1466.029"/> Auditorium, das wie die Kinder gewohnt ist, Bäume, Steine, Flüsse, Tische, <lb n="pvi_1466.030"/> Messer und Gabel, Fuchs und Wolf sprechen zu lassen. Es ist nichts zu <lb n="pvi_1466.031"/> verwundern, es versteht sich von selbst. Die Beziehung der vertrauten und <lb n="pvi_1466.032"/> einleuchtenden Eigenschaften der Naturwesen auf das tief verwandte Menschliche <lb n="pvi_1466.033"/> liegt nun eben schon in diesem Rucke zum scheinbar wirklich Menschlichen; <lb n="pvi_1466.034"/> der Dichter braucht daher die Moral gar nicht herauszustellen, sie <lb n="pvi_1466.035"/> wird, wenn er richtig und lebendig erzählt, in der Handlung selbst von den <lb n="pvi_1466.036"/> Acteuren ausgesprochen. Ja die Lieblichkeit und der Humor der Erzählung <lb n="pvi_1466.037"/> gewinnt unter der Hand ein Jnteresse für sich, einen selbständigen Werth, <lb n="pvi_1466.038"/> und die Fabel, indem sie mit dem Lehrzwecke spielt, hebt sich dadurch näher <lb n="pvi_1466.039"/> an die selbständige Poesie. Es hängt aber die Entbehrlichkeit des Epimythions <lb n="pvi_1466.040"/> noch anders zusammen: die Fabel stand ursprünglich nicht für sich, <lb n="pvi_1466.041"/> sondern gehörte dem Leben an, wurde bei Anlaß einer Situation, einer </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1466/0328]
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wird auch in ihr zur Erzählung, diese aber ist Fiction in viel engerem pvi_1466.002
Sinne, denn sie leiht der unbeseelten Natur, Pflanzen, Bergen, Gewässern, pvi_1466.003
einzelnen Organen des Körpers, vor Allem aber der Thierwelt Bewußtsein, pvi_1466.004
Vernunft, Sprache und verlegt so Handlung in ein Gebiet, wo es nach pvi_1466.005
Naturgesetzen keine gibt, freilich eine Handlung, die dem beobachteten Charakter pvi_1466.006
der Naturwesen entspricht. Producte der menschlichen Kunst treten ebenfalls pvi_1466.007
auf und werden wie beseelte Naturwesen aufgefaßt. Lehrhafte Fiction auf pvi_1466.008
Grundlage der Naturbeobachtung ist also das Wesen der Fabel, nicht blos pvi_1466.009
der Aesopischen, sondern der Fabel überhaupt. Daß auch geisterhafte Gestalten, pvi_1466.010
Riesen und Zwerge, Götter, allegorische Personen auftreten, ändert pvi_1466.011
nichts an diesem Charakter, denn sie werden in diesem Zusammenhange pvi_1466.012
ganz ähnlich wie typisch einfache Thiercharaktere verwendet; daß sich die pvi_1466.013
Fabel in Sammlungen jederzeit mit Parabeln gemischt hat, welche mit pvi_1466.014
ihr unter Einem Namen befaßt werden, kommt nur von der nahen Verwandtschaft pvi_1466.015
beider Formen und der Ungenauigkeit gewöhnlichen Sprachgebrauchs. pvi_1466.016
Die Fabel vereinigt also Wunderbarkeit und Natürlichkeit. Die pvi_1466.017
erstere Eigenschaft scheint denn eine Absichtlichkeit des Bildes, eine Aeußerlichkeit pvi_1466.018
seiner Beziehung zu seiner Jdee, einen Verlust an Einfachheit und schlichter pvi_1466.019
Angemessenheit in Vergleich mit der Parabel zu begründen. Allein umgekehrt: pvi_1466.020
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der Züge, die von dem Naturwesen entlehnt werden, namentlich pvi_1466.022
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menschlichen Eigenschaften, Gesinnungen, so ganz schlagend, daß er mit pvi_1466.024
voller Ungesuchtheit hervorspringt. Es ist nur ein unmerkbarer Ruck, der pvi_1466.025
das Menschenähnliche zum Scheine des wirklich Menschlichen erhebt, ein pvi_1466.026
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Messer und Gabel, Fuchs und Wolf sprechen zu lassen. Es ist nichts zu pvi_1466.031
verwundern, es versteht sich von selbst. Die Beziehung der vertrauten und pvi_1466.032
einleuchtenden Eigenschaften der Naturwesen auf das tief verwandte Menschliche pvi_1466.033
liegt nun eben schon in diesem Rucke zum scheinbar wirklich Menschlichen; pvi_1466.034
der Dichter braucht daher die Moral gar nicht herauszustellen, sie pvi_1466.035
wird, wenn er richtig und lebendig erzählt, in der Handlung selbst von den pvi_1466.036
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sondern gehörte dem Leben an, wurde bei Anlaß einer Situation, einer
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