Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1467.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0329" n="1467"/><lb n="pvi_1467.001"/> Thatsache vorgetragen (Fabel des Menenius Agrippa) oder war Theil eines <lb n="pvi_1467.002"/> größeren Gedichts und dieser Zusammenhang gab von selbst die Beziehung, <lb n="pvi_1467.003"/> den Sinn (vergl. Hertzberg a. a. O. S. 128, dessen scharfsinniger Untersuchung <lb n="pvi_1467.004"/> wir überhaupt in diesen Erörterungen folgen). Erst die historische <lb n="pvi_1467.005"/> Aufbewahrung, die Nachahmung in der Kunstpoesie hat sie vereinzelt, ihr <lb n="pvi_1467.006"/> diese Beziehung genommen und dafür das ausdrückliche <hi rendition="#aq">fabula docet</hi> aufgedrängt. <lb n="pvi_1467.007"/> Dadurch ist sie zugleich um ihren Grundzug, die Naivetät gekommen <lb n="pvi_1467.008"/> und selbst Lessing konnte epigrammatische Kürze mit kindlicher Einfachheit <lb n="pvi_1467.009"/> verwechseln. Es mag eine witzige, pointirte, satyrische Fabel berechtigt <lb n="pvi_1467.010"/> sein, aber sie ist ein später, moderner Ableger der wahren. Diese ist Eigenthum <lb n="pvi_1467.011"/> des frischen Auges, das die Natur liebevoll und unbefangen belauscht, <lb n="pvi_1467.012"/> das Thierleben nicht in der Studirstube, sondern in Wald und Feld, Stall <lb n="pvi_1467.013"/> und Hof beobachtet hat. Die Fabel ist im besten Sinne ein Stück rechter <lb n="pvi_1467.014"/> Bauern-Poesie. Daher ist sie auch nicht eigentlich ethisch; die Bauernklugheit <lb n="pvi_1467.015"/> entnimmt praktische Sätze, Regeln des Lebensverstands aus dem verwandten <lb n="pvi_1467.016"/> Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der Sinnlichkeit, der <lb n="pvi_1467.017"/> List des Thieres. – Parabel und Fabel sind demgemäß von so ursprünglichem <lb n="pvi_1467.018"/> Charakter, daß wir sie zu jenen unbefangenen, altehrwürdigen Urformen <lb n="pvi_1467.019"/> der Lehr-Poesie hätten stellen müssen, wenn sie nicht doch durch die <lb n="pvi_1467.020"/> Jsolirung einer einzelnen Lebenswahrheit sich von einem Gebiete sonderten, <lb n="pvi_1467.021"/> das noch im großen, monumentalen Zusammenhange des mythischen Glaubens <lb n="pvi_1467.022"/> und seiner Phantasiewelt liegt. – Auf einen größeren Zusammenhang <lb n="pvi_1467.023"/> anderer Art weist allerdings die Fabel hin. Dieß ist die <hi rendition="#g">Thiersage.</hi> <lb n="pvi_1467.024"/> Sie belauscht die Thiere und hebt wie die Fabel das Menschenähnliche ihres <lb n="pvi_1467.025"/> Thuns in die Form des wirklichen Bewußtseins, der Sprache, allein sie hat <lb n="pvi_1467.026"/> nicht daneben den Menschen im Auge, um, was sie an den Thieren beobachtet, <lb n="pvi_1467.027"/> nun mit Lehr-Absicht auf ihn zu beziehen, das Jnteresse bleibt ihnen <lb n="pvi_1467.028"/> ungetheilt und sie werden zu freien, selbständigen Wesen, Personen für sich, <lb n="pvi_1467.029"/> wie in der Heldensage die Helden, daher auch mit Eigennamen, die ursprünglich <lb n="pvi_1467.030"/> Charakterbezeichnungen sind, wie diese ausgestattet. Es ist daher natürlich, <lb n="pvi_1467.031"/> daß die Hauptpersonen freie Waldthiere sind, Raubthiere von fest ausgesprochenem <lb n="pvi_1467.032"/> typischen Charakter, und die Thiersage weist auf die ältesten <lb n="pvi_1467.033"/> Zeiten des deutschen Volkes, dem sie ausschließlich eigen ist, auf frisches <lb n="pvi_1467.034"/> Wald- und Jägerleben zurück, das „die Heimlichkeit der Thierwelt“ belauschte, <lb n="pvi_1467.035"/> sie athmet „Waldgeruch“ (J. Grimm. Reinhart Fuchs Einl.). Nun kann <lb n="pvi_1467.036"/> aber der Mensch, der ein so nahe Verwandtes in der Natur liebend <lb n="pvi_1467.037"/> beobachtet und dichtend umbildet, nicht völlig sich selbst neben dem Gegenstande <lb n="pvi_1467.038"/> vergessen; er kann nicht dauernd in das Thier den Menschen ganz <lb n="pvi_1467.039"/> hineinsehen; der Mensch ist außerdem noch da und die Hinüberziehung <lb n="pvi_1467.040"/> muß eintreten, es muß einleuchten, daß ja dieß Alles ein sprechendes Bild <lb n="pvi_1467.041"/> des Menschenlebens ist; das Bewußtsein der Beziehung wächst mit dem </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1467/0329]
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Thatsache vorgetragen (Fabel des Menenius Agrippa) oder war Theil eines pvi_1467.002
größeren Gedichts und dieser Zusammenhang gab von selbst die Beziehung, pvi_1467.003
den Sinn (vergl. Hertzberg a. a. O. S. 128, dessen scharfsinniger Untersuchung pvi_1467.004
wir überhaupt in diesen Erörterungen folgen). Erst die historische pvi_1467.005
Aufbewahrung, die Nachahmung in der Kunstpoesie hat sie vereinzelt, ihr pvi_1467.006
diese Beziehung genommen und dafür das ausdrückliche fabula docet aufgedrängt. pvi_1467.007
Dadurch ist sie zugleich um ihren Grundzug, die Naivetät gekommen pvi_1467.008
und selbst Lessing konnte epigrammatische Kürze mit kindlicher Einfachheit pvi_1467.009
verwechseln. Es mag eine witzige, pointirte, satyrische Fabel berechtigt pvi_1467.010
sein, aber sie ist ein später, moderner Ableger der wahren. Diese ist Eigenthum pvi_1467.011
des frischen Auges, das die Natur liebevoll und unbefangen belauscht, pvi_1467.012
das Thierleben nicht in der Studirstube, sondern in Wald und Feld, Stall pvi_1467.013
und Hof beobachtet hat. Die Fabel ist im besten Sinne ein Stück rechter pvi_1467.014
Bauern-Poesie. Daher ist sie auch nicht eigentlich ethisch; die Bauernklugheit pvi_1467.015
entnimmt praktische Sätze, Regeln des Lebensverstands aus dem verwandten pvi_1467.016
Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der Sinnlichkeit, der pvi_1467.017
List des Thieres. – Parabel und Fabel sind demgemäß von so ursprünglichem pvi_1467.018
Charakter, daß wir sie zu jenen unbefangenen, altehrwürdigen Urformen pvi_1467.019
der Lehr-Poesie hätten stellen müssen, wenn sie nicht doch durch die pvi_1467.020
Jsolirung einer einzelnen Lebenswahrheit sich von einem Gebiete sonderten, pvi_1467.021
das noch im großen, monumentalen Zusammenhange des mythischen Glaubens pvi_1467.022
und seiner Phantasiewelt liegt. – Auf einen größeren Zusammenhang pvi_1467.023
anderer Art weist allerdings die Fabel hin. Dieß ist die Thiersage. pvi_1467.024
Sie belauscht die Thiere und hebt wie die Fabel das Menschenähnliche ihres pvi_1467.025
Thuns in die Form des wirklichen Bewußtseins, der Sprache, allein sie hat pvi_1467.026
nicht daneben den Menschen im Auge, um, was sie an den Thieren beobachtet, pvi_1467.027
nun mit Lehr-Absicht auf ihn zu beziehen, das Jnteresse bleibt ihnen pvi_1467.028
ungetheilt und sie werden zu freien, selbständigen Wesen, Personen für sich, pvi_1467.029
wie in der Heldensage die Helden, daher auch mit Eigennamen, die ursprünglich pvi_1467.030
Charakterbezeichnungen sind, wie diese ausgestattet. Es ist daher natürlich, pvi_1467.031
daß die Hauptpersonen freie Waldthiere sind, Raubthiere von fest ausgesprochenem pvi_1467.032
typischen Charakter, und die Thiersage weist auf die ältesten pvi_1467.033
Zeiten des deutschen Volkes, dem sie ausschließlich eigen ist, auf frisches pvi_1467.034
Wald- und Jägerleben zurück, das „die Heimlichkeit der Thierwelt“ belauschte, pvi_1467.035
sie athmet „Waldgeruch“ (J. Grimm. Reinhart Fuchs Einl.). Nun kann pvi_1467.036
aber der Mensch, der ein so nahe Verwandtes in der Natur liebend pvi_1467.037
beobachtet und dichtend umbildet, nicht völlig sich selbst neben dem Gegenstande pvi_1467.038
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muß eintreten, es muß einleuchten, daß ja dieß Alles ein sprechendes Bild pvi_1467.041
des Menschenlebens ist; das Bewußtsein der Beziehung wächst mit dem
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