Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1472.001 pvi_1472.010 §. 926. pvi_1472.011Die Tendenzpoesie verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen pvi_1472.012 Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf pvi_1472.019
pvi_1472.001 pvi_1472.010 §. 926. pvi_1472.011Die Tendenzpoesie verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen pvi_1472.012 Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf pvi_1472.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0334" n="1472"/><lb n="pvi_1472.001"/> gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoesie hat sich <lb n="pvi_1472.002"/> denn über alle möglichen Zweige der Wissenschaft verbreitet bis zu den <lb n="pvi_1472.003"/> anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Gelehrten); <lb n="pvi_1472.004"/> sie hat höhere, künstlerische (<hi rendition="#aq">ars poetica</hi> des Horaz u. s. w.) und <lb n="pvi_1472.005"/> niedrige Technik, bis zur Seidenspinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem <lb n="pvi_1472.006"/> ästhetischen Jnhalt der ersteren ist ihr geringer Gewinn an poetischem Werth <lb n="pvi_1472.007"/> erwachsen, denn die Wohlweisheit des Recepts, so viel Verständiges dasselbe <lb n="pvi_1472.008"/> enthalten mag, sinkt an dem freien Geiste des Jdeals, über den sie sich <lb n="pvi_1472.009"/> ergießt, als mattes, laues Wasser hinunter.</hi> </p> </div> <div n="2"> <lb n="pvi_1472.010"/> <p> <hi rendition="#c">§. 926.</hi> </p> <lb n="pvi_1472.011"/> <p> Die <hi rendition="#g">Tendenzpoesie</hi> verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen <lb n="pvi_1472.012"/> Elemente, welche in der didaktischen zu Tage liegt, unter der Energie des <lb n="pvi_1472.013"/> pathetischen Hindringens auf den Zweck und nähert sich dadurch einem andern <lb n="pvi_1472.014"/> Grenzgebiete der Poesie, der <hi rendition="#g">Rhetorik.</hi> Diese greift vom praktisch ethischen <lb n="pvi_1472.015"/> Boden in die Dichtkunst herüber, indem sie zum Zweck einer bestimmten Wirkung <lb n="pvi_1472.016"/> auf den Willen Gefühl und Phantasie aufbietet und diese Mittel mit denen der <lb n="pvi_1472.017"/> Ueberzeugung zu einem künstlerischen Ganzen verarbeitet.</p> <lb n="pvi_1472.018"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf <lb n="pvi_1472.019"/> den theoretischen Geist wirken, sondern auf das sittliche, politische Leben <lb n="pvi_1472.020"/> (vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbestimmt eben durch jenen. <lb n="pvi_1472.021"/> Die Tendenzpoesie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, sich direct <lb n="pvi_1472.022"/> in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu bestimmen, daß sie durch <lb n="pvi_1472.023"/> den Willen die Jdee, für welche der Dichter begeistert ist, realisiren, und <lb n="pvi_1472.024"/> indirect verfährt sie dabei nur sofern, als sie diesen Zweck unter den poetischen <lb n="pvi_1472.025"/> Mitteln verhüllt. Sie ist in §. 848 als Fehler besprochen; hier, im Anhang, <lb n="pvi_1472.026"/> wo es sich von berechtigten Nebenformen handelt, muß sie noch einmal, und <lb n="pvi_1472.027"/> auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie steht über <lb n="pvi_1472.028"/> und unter der didaktischen: über ihr, sofern das Pathos für ein bestimmtes <lb n="pvi_1472.029"/> reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger ist, als die stille Wärme, die eine <lb n="pvi_1472.030"/> Betrachtung begleitet, unter ihr, sofern die Betrachtung, welche die Welt <lb n="pvi_1472.031"/> nicht unter dem Standpuncte des Sollens ansieht und nicht das pathologische <lb n="pvi_1472.032"/> Jnteresse hat, auf sie direct einzuwirken, idealer ist und wenn sie die <lb n="pvi_1472.033"/> höchsten Sphären zum Jnhalte nimmt, dem Gebiete des absoluten Geistes <lb n="pvi_1472.034"/> angehört; man kann hinzusetzen, daß die geständige Lehr-Absicht weniger <lb n="pvi_1472.035"/> unbehaglich stimmt, als die versteckte des Wirkens, die man wittert und der <lb n="pvi_1472.036"/> man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man <lb n="pvi_1472.037"/> die eine der andern vorziehen und am leichtesten sich mit dem Tendenziösen <lb n="pvi_1472.038"/> versöhnen, wenn man sieht, daß es nur die schwächere Seite eines Dichtergeistes </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1472/0334]
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gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoesie hat sich pvi_1472.002
denn über alle möglichen Zweige der Wissenschaft verbreitet bis zu den pvi_1472.003
anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Gelehrten); pvi_1472.004
sie hat höhere, künstlerische (ars poetica des Horaz u. s. w.) und pvi_1472.005
niedrige Technik, bis zur Seidenspinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem pvi_1472.006
ästhetischen Jnhalt der ersteren ist ihr geringer Gewinn an poetischem Werth pvi_1472.007
erwachsen, denn die Wohlweisheit des Recepts, so viel Verständiges dasselbe pvi_1472.008
enthalten mag, sinkt an dem freien Geiste des Jdeals, über den sie sich pvi_1472.009
ergießt, als mattes, laues Wasser hinunter.
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§. 926.
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Die Tendenzpoesie verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen pvi_1472.012
Elemente, welche in der didaktischen zu Tage liegt, unter der Energie des pvi_1472.013
pathetischen Hindringens auf den Zweck und nähert sich dadurch einem andern pvi_1472.014
Grenzgebiete der Poesie, der Rhetorik. Diese greift vom praktisch ethischen pvi_1472.015
Boden in die Dichtkunst herüber, indem sie zum Zweck einer bestimmten Wirkung pvi_1472.016
auf den Willen Gefühl und Phantasie aufbietet und diese Mittel mit denen der pvi_1472.017
Ueberzeugung zu einem künstlerischen Ganzen verarbeitet.
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Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf pvi_1472.019
den theoretischen Geist wirken, sondern auf das sittliche, politische Leben pvi_1472.020
(vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbestimmt eben durch jenen. pvi_1472.021
Die Tendenzpoesie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, sich direct pvi_1472.022
in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu bestimmen, daß sie durch pvi_1472.023
den Willen die Jdee, für welche der Dichter begeistert ist, realisiren, und pvi_1472.024
indirect verfährt sie dabei nur sofern, als sie diesen Zweck unter den poetischen pvi_1472.025
Mitteln verhüllt. Sie ist in §. 848 als Fehler besprochen; hier, im Anhang, pvi_1472.026
wo es sich von berechtigten Nebenformen handelt, muß sie noch einmal, und pvi_1472.027
auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie steht über pvi_1472.028
und unter der didaktischen: über ihr, sofern das Pathos für ein bestimmtes pvi_1472.029
reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger ist, als die stille Wärme, die eine pvi_1472.030
Betrachtung begleitet, unter ihr, sofern die Betrachtung, welche die Welt pvi_1472.031
nicht unter dem Standpuncte des Sollens ansieht und nicht das pathologische pvi_1472.032
Jnteresse hat, auf sie direct einzuwirken, idealer ist und wenn sie die pvi_1472.033
höchsten Sphären zum Jnhalte nimmt, dem Gebiete des absoluten Geistes pvi_1472.034
angehört; man kann hinzusetzen, daß die geständige Lehr-Absicht weniger pvi_1472.035
unbehaglich stimmt, als die versteckte des Wirkens, die man wittert und der pvi_1472.036
man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man pvi_1472.037
die eine der andern vorziehen und am leichtesten sich mit dem Tendenziösen pvi_1472.038
versöhnen, wenn man sieht, daß es nur die schwächere Seite eines Dichtergeistes
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