Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1177.001 Zu größerer Bestimmtheit bringt es natürlich die Poesie, wenn sie pvi_1177.002 pvi_1177.001 Zu größerer Bestimmtheit bringt es natürlich die Poesie, wenn sie pvi_1177.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0039" n="1177"/> <lb n="pvi_1177.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Zu größerer Bestimmtheit bringt es natürlich die Poesie, wenn sie <lb n="pvi_1177.002"/> dieß ungenügende Andeuten durch das Bild der <hi rendition="#g">Wirkung</hi> einer bestimmten <lb n="pvi_1177.003"/> Musik ergänzt, wie Homer, wo er von Demodokos erzählt, der Dichter der <lb n="pvi_1177.004"/> Gudrun, wenn er schildert, wie bei Horands Gesang die Vögel schweigen, <lb n="pvi_1177.005"/> die Fische im Wasser stille halten. Dieß ganze Moment bleibt aber ein <lb n="pvi_1177.006"/> sehr untergeordnetes; ungleich wesentlicher ist das andere, daß die Poesie <lb n="pvi_1177.007"/> einfach durch sich selbst die Welt der Stimmungen darstellt. Der §. sagt: <lb n="pvi_1177.008"/> „nach einer Seite sogar umfangreicher, als die Musik“; dieß erklärt sich <lb n="pvi_1177.009"/> aus dem, was über das Verhältniß von Vocal- und Jnstrumentalmusik <lb n="pvi_1177.010"/> (§. 764) mit Rückbeziehung auf das Verhältniß zwischen Gefühl und Bewußtsein <lb n="pvi_1177.011"/> (§. 748) gesagt ist: das Reich der Gefühlszustände wird viel <lb n="pvi_1177.012"/> umfassender geöffnet, wenn das Wort die Objecte nennt, auf welche das <lb n="pvi_1177.013"/> Gefühl bezogen ist. Es ist aber an der erstern Stelle auch gezeigt, wie <lb n="pvi_1177.014"/> durch diese hülfreiche Anlehnung für die Musik doch eine Jncongruenz entsteht, <lb n="pvi_1177.015"/> wie sie sich des Textes ebensosehr erwehrt, als an ihn anschmiegt; <lb n="pvi_1177.016"/> verhält sich dieß so in jenem Gebiete, wo der Dichter ganz nach den Zwecken <lb n="pvi_1177.017"/> des Musikers sich richtet und die Poesie in seinem Text als solche nur <lb n="pvi_1177.018"/> geringen Anspruch macht, so wird sich im eigenen Felde der Dichtkunst die <lb n="pvi_1177.019"/> Sache anders wenden: in allen speziellen Schilderungen des Stimmungslebens <lb n="pvi_1177.020"/> wird, indem das Wort dem Gefühle durchaus Beziehung auf Objecte <lb n="pvi_1177.021"/> gibt, dieses in einem gewissen Sinne vielseitiger erschöpft, aber auch aus <lb n="pvi_1177.022"/> seinem Elemente gehoben und zum bloßen Begleiter anderer Kräfte, zur <lb n="pvi_1177.023"/> bloßen Atmosphäre, worin bestimmter Jnhalt, Sichtbares, Vergegenwärtigung <lb n="pvi_1177.024"/> wirklich genannter Affecte, Entschlüsse, Handlungen sich gestaltet. <lb n="pvi_1177.025"/> Nur darf dieß Element, diese Atmosphäre darum keineswegs zu einer bloßen <lb n="pvi_1177.026"/> Nebensache werden, und dieß führt auf das dritte Moment, das Wesentliche, <lb n="pvi_1177.027"/> den Mittelpunct. Nicht nur nämlich, wo es sich speziell von Schilderung <lb n="pvi_1177.028"/> einzelner Gefühlszustände handelt, sondern überhaupt und immer soll Alles <lb n="pvi_1177.029"/> in der Poesie <hi rendition="#g">stimmungsvoll</hi> sein. Wir haben ja gesehen, daß das <lb n="pvi_1177.030"/> Gefühl die lebendige Mitte des Geisteslebens ist, woraus alles Bestimmte <lb n="pvi_1177.031"/> hervorgeht, worein es wieder einsinkt, worin es erst zum innersten Eigenthum <lb n="pvi_1177.032"/> des Subjects wird, woraus es wieder auftaucht, wie aber das Gefühl <lb n="pvi_1177.033"/> nicht verschwindet, wenn das Bestimmte, Bewußte aus ihm sich ausgeschieden <lb n="pvi_1177.034"/> hat, sondern es als innige Erinnerung seines Ursprungs begleitet. Dieß <lb n="pvi_1177.035"/> gilt nun ganz von der Poesie als der Kunst der Darstellung des bewußten <lb n="pvi_1177.036"/> Lebens in Phantasieform. Was nicht empfunden ist, hat kein Leben, keine <lb n="pvi_1177.037"/> Wahrheit. Alles ächt Poetische ist durchaus in Empfindung getaucht; es <lb n="pvi_1177.038"/> sind wahrnehmbare Wellen, warme Strömungen, welche das ganze Gebild <lb n="pvi_1177.039"/> umweben, es ist ein bestimmter Duft, der Niemand entgeht, welcher Sinn <lb n="pvi_1177.040"/> hat. Wie viele Poesie ist freilich geruchlos! Ein großer Theil der poetischen <lb n="pvi_1177.041"/> Literatur, namentlich der neueren, fällt schon durch diesen einfachen Maaßstab </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1177/0039]
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Zu größerer Bestimmtheit bringt es natürlich die Poesie, wenn sie pvi_1177.002
dieß ungenügende Andeuten durch das Bild der Wirkung einer bestimmten pvi_1177.003
Musik ergänzt, wie Homer, wo er von Demodokos erzählt, der Dichter der pvi_1177.004
Gudrun, wenn er schildert, wie bei Horands Gesang die Vögel schweigen, pvi_1177.005
die Fische im Wasser stille halten. Dieß ganze Moment bleibt aber ein pvi_1177.006
sehr untergeordnetes; ungleich wesentlicher ist das andere, daß die Poesie pvi_1177.007
einfach durch sich selbst die Welt der Stimmungen darstellt. Der §. sagt: pvi_1177.008
„nach einer Seite sogar umfangreicher, als die Musik“; dieß erklärt sich pvi_1177.009
aus dem, was über das Verhältniß von Vocal- und Jnstrumentalmusik pvi_1177.010
(§. 764) mit Rückbeziehung auf das Verhältniß zwischen Gefühl und Bewußtsein pvi_1177.011
(§. 748) gesagt ist: das Reich der Gefühlszustände wird viel pvi_1177.012
umfassender geöffnet, wenn das Wort die Objecte nennt, auf welche das pvi_1177.013
Gefühl bezogen ist. Es ist aber an der erstern Stelle auch gezeigt, wie pvi_1177.014
durch diese hülfreiche Anlehnung für die Musik doch eine Jncongruenz entsteht, pvi_1177.015
wie sie sich des Textes ebensosehr erwehrt, als an ihn anschmiegt; pvi_1177.016
verhält sich dieß so in jenem Gebiete, wo der Dichter ganz nach den Zwecken pvi_1177.017
des Musikers sich richtet und die Poesie in seinem Text als solche nur pvi_1177.018
geringen Anspruch macht, so wird sich im eigenen Felde der Dichtkunst die pvi_1177.019
Sache anders wenden: in allen speziellen Schilderungen des Stimmungslebens pvi_1177.020
wird, indem das Wort dem Gefühle durchaus Beziehung auf Objecte pvi_1177.021
gibt, dieses in einem gewissen Sinne vielseitiger erschöpft, aber auch aus pvi_1177.022
seinem Elemente gehoben und zum bloßen Begleiter anderer Kräfte, zur pvi_1177.023
bloßen Atmosphäre, worin bestimmter Jnhalt, Sichtbares, Vergegenwärtigung pvi_1177.024
wirklich genannter Affecte, Entschlüsse, Handlungen sich gestaltet. pvi_1177.025
Nur darf dieß Element, diese Atmosphäre darum keineswegs zu einer bloßen pvi_1177.026
Nebensache werden, und dieß führt auf das dritte Moment, das Wesentliche, pvi_1177.027
den Mittelpunct. Nicht nur nämlich, wo es sich speziell von Schilderung pvi_1177.028
einzelner Gefühlszustände handelt, sondern überhaupt und immer soll Alles pvi_1177.029
in der Poesie stimmungsvoll sein. Wir haben ja gesehen, daß das pvi_1177.030
Gefühl die lebendige Mitte des Geisteslebens ist, woraus alles Bestimmte pvi_1177.031
hervorgeht, worein es wieder einsinkt, worin es erst zum innersten Eigenthum pvi_1177.032
des Subjects wird, woraus es wieder auftaucht, wie aber das Gefühl pvi_1177.033
nicht verschwindet, wenn das Bestimmte, Bewußte aus ihm sich ausgeschieden pvi_1177.034
hat, sondern es als innige Erinnerung seines Ursprungs begleitet. Dieß pvi_1177.035
gilt nun ganz von der Poesie als der Kunst der Darstellung des bewußten pvi_1177.036
Lebens in Phantasieform. Was nicht empfunden ist, hat kein Leben, keine pvi_1177.037
Wahrheit. Alles ächt Poetische ist durchaus in Empfindung getaucht; es pvi_1177.038
sind wahrnehmbare Wellen, warme Strömungen, welche das ganze Gebild pvi_1177.039
umweben, es ist ein bestimmter Duft, der Niemand entgeht, welcher Sinn pvi_1177.040
hat. Wie viele Poesie ist freilich geruchlos! Ein großer Theil der poetischen pvi_1177.041
Literatur, namentlich der neueren, fällt schon durch diesen einfachen Maaßstab
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