Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1176.001 2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt pvi_1176.020 Die Weise noch einmal! - sie starb so hin; pvi_1176.038
O sie beschlich mein Ohr dem Weste gleich, pvi_1176.039 Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht pvi_1176.040 Und Düfte stiehlt und gibt. -
pvi_1176.001 2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt pvi_1176.020 Die Weise noch einmal! – sie starb so hin; pvi_1176.038
O sie beschlich mein Ohr dem Weste gleich, pvi_1176.039 Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht pvi_1176.040 Und Düfte stiehlt und gibt. – <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0038" n="1176"/><lb n="pvi_1176.001"/> könne nicht mehrere Vorstellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantasie <lb n="pvi_1176.002"/> breitet er ein Bild vor sich aus, das viele Bilder in sich schließt, seine <lb n="pvi_1176.003"/> Gefühle sind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von <lb n="pvi_1176.004"/> Gedanken in Einem zusammen. Aber Alles, was er innerlich schaut, fühlt <lb n="pvi_1176.005"/> und denkt, bewegt sich im stetigen Flusse der Zeit. Der Geist ist zeitlose <lb n="pvi_1176.006"/> Jdealität, in Zeitform sich äußernd, diese ist der Pulsschlag, der Perpendikel <lb n="pvi_1176.007"/> seiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in sich zusammenfaßt, <lb n="pvi_1176.008"/> nicht anders, als in der Form des Nacheinander darstellen, wenn <lb n="pvi_1176.009"/> er nicht seine Grundform freiwillig aufgeben und sein Jnneres in festem <lb n="pvi_1176.010"/> Körper nachgebildet in den Raum stellen will. Die Musik führt gleichzeitige <lb n="pvi_1176.011"/> Unterschiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem sie sich zur <lb n="pvi_1176.012"/> Harmonie ausbildet. Die Poesie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht <lb n="pvi_1176.013"/> ebenso verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder gelesen <lb n="pvi_1176.014"/> werden, sie gibt aber in Einem Momente der Phantasie eine räumliche und <lb n="pvi_1176.015"/> geistige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Jncongruenzen <lb n="pvi_1176.016"/> zu gerathen, indem sie diese Vielheit successiv fortführt. Davon wird seines <lb n="pvi_1176.017"/> Orts die Rede sein; jetzt ist zunächst die Verwandtschaft zwischen Musik und <lb n="pvi_1176.018"/> Poesie weiter zu verfolgen.</hi> </p> <lb n="pvi_1176.019"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt <lb n="pvi_1176.020"/> und von ihm begleitet wird, so muß die Kunstform, die den Uebergang <lb n="pvi_1176.021"/> vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem sie (logisch, doch <lb n="pvi_1176.022"/> in gewissem Sinn auch historisch) herkommt, festhalten und kundgeben. <lb n="pvi_1176.023"/> Es sind aber die Momente, worin dieß innige Band, diese Rückweisung <lb n="pvi_1176.024"/> auf den mütterlichen Schooß sich ausspricht, wohl zu unterscheiden. Für's <lb n="pvi_1176.025"/> Erste findet, ähnlich wie bei der geistigen Erneuerung der Wirkungen der <lb n="pvi_1176.026"/> bildenden Kunst, ein eigentliches Nachahmen der Leistungen Statt: die <lb n="pvi_1176.027"/> Dichtkunst kann bis auf einen gewissen Grad dem innerlichen Gehöre durch <lb n="pvi_1176.028"/> Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; sie kann es, <lb n="pvi_1176.029"/> sofern dem Gefühle das Bewußtsein (§. 748), die Vorstellung bestimmter <lb n="pvi_1176.030"/> Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer <lb n="pvi_1176.031"/> unmittelbar nahe liegt, sie kann es aber doch nur in ganz entfernter und <lb n="pvi_1176.032"/> schwankender Andeutung, indem das Jnnerste des spezifisch für sich auftretenden <lb n="pvi_1176.033"/> Gefühls niemals in Worte zu fassen ist. Nur das Allgemeinste <lb n="pvi_1176.034"/> einer Stimmung, wie sie in einer Melodie liegt, kann ausgesprochen werden, <lb n="pvi_1176.035"/> wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beispiel in den <lb n="pvi_1176.036"/> Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“:</hi> </p> <lb n="pvi_1176.037"/> <lg> <l><hi rendition="#g">Die</hi> Weise noch einmal! – sie starb so hin;</l> <lb n="pvi_1176.038"/> <l>O sie beschlich mein Ohr dem Weste gleich,</l> <lb n="pvi_1176.039"/> <l>Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht</l> <lb n="pvi_1176.040"/> <l>Und Düfte stiehlt und gibt. –</l> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1176/0038]
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könne nicht mehrere Vorstellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantasie pvi_1176.002
breitet er ein Bild vor sich aus, das viele Bilder in sich schließt, seine pvi_1176.003
Gefühle sind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von pvi_1176.004
Gedanken in Einem zusammen. Aber Alles, was er innerlich schaut, fühlt pvi_1176.005
und denkt, bewegt sich im stetigen Flusse der Zeit. Der Geist ist zeitlose pvi_1176.006
Jdealität, in Zeitform sich äußernd, diese ist der Pulsschlag, der Perpendikel pvi_1176.007
seiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in sich zusammenfaßt, pvi_1176.008
nicht anders, als in der Form des Nacheinander darstellen, wenn pvi_1176.009
er nicht seine Grundform freiwillig aufgeben und sein Jnneres in festem pvi_1176.010
Körper nachgebildet in den Raum stellen will. Die Musik führt gleichzeitige pvi_1176.011
Unterschiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem sie sich zur pvi_1176.012
Harmonie ausbildet. Die Poesie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht pvi_1176.013
ebenso verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder gelesen pvi_1176.014
werden, sie gibt aber in Einem Momente der Phantasie eine räumliche und pvi_1176.015
geistige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Jncongruenzen pvi_1176.016
zu gerathen, indem sie diese Vielheit successiv fortführt. Davon wird seines pvi_1176.017
Orts die Rede sein; jetzt ist zunächst die Verwandtschaft zwischen Musik und pvi_1176.018
Poesie weiter zu verfolgen.
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2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt pvi_1176.020
und von ihm begleitet wird, so muß die Kunstform, die den Uebergang pvi_1176.021
vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem sie (logisch, doch pvi_1176.022
in gewissem Sinn auch historisch) herkommt, festhalten und kundgeben. pvi_1176.023
Es sind aber die Momente, worin dieß innige Band, diese Rückweisung pvi_1176.024
auf den mütterlichen Schooß sich ausspricht, wohl zu unterscheiden. Für's pvi_1176.025
Erste findet, ähnlich wie bei der geistigen Erneuerung der Wirkungen der pvi_1176.026
bildenden Kunst, ein eigentliches Nachahmen der Leistungen Statt: die pvi_1176.027
Dichtkunst kann bis auf einen gewissen Grad dem innerlichen Gehöre durch pvi_1176.028
Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; sie kann es, pvi_1176.029
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Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer pvi_1176.031
unmittelbar nahe liegt, sie kann es aber doch nur in ganz entfernter und pvi_1176.032
schwankender Andeutung, indem das Jnnerste des spezifisch für sich auftretenden pvi_1176.033
Gefühls niemals in Worte zu fassen ist. Nur das Allgemeinste pvi_1176.034
einer Stimmung, wie sie in einer Melodie liegt, kann ausgesprochen werden, pvi_1176.035
wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beispiel in den pvi_1176.036
Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“:
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