Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1175.001 §. 839. pvi_1175.014Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der Musik durch ihr1. pvi_1175.015 1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem pvi_1175.030
pvi_1175.001 §. 839. pvi_1175.014Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der Musik durch ihr1. pvi_1175.015 1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem pvi_1175.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0037" n="1175"/><lb n="pvi_1175.001"/> Eindrücke gleichen den tonischen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte <lb n="pvi_1175.002"/> für sie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf gestützt <lb n="pvi_1175.003"/> genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber stark ergreifenden <lb n="pvi_1175.004"/> Wahrnehmungen dieser Art zu vergegenwärtigen. Allerdings <lb n="pvi_1175.005"/> darf er sie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von <lb n="pvi_1175.006"/> Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen, <lb n="pvi_1175.007"/> es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poesie eigentlich kein <lb n="pvi_1175.008"/> neues Erscheinungsgebiet erobert, daß er sie aber nicht zu scheuen hat, daß <lb n="pvi_1175.009"/> sie im Gegentheil bedeutende ästhetische Hebel für ihn werden können, ist <lb n="pvi_1175.010"/> schon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird sie wie eine tiefe Symbolik <lb n="pvi_1175.011"/> mit menschlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung setzen, Aufregungen <lb n="pvi_1175.012"/> der bedeutendsten Art aus ihnen entspringen lassen.</hi> </p> <lb n="pvi_1175.013"/> <p> <hi rendition="#c">§. 839.</hi> </p> <lb n="pvi_1175.014"/> <p> Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der <hi rendition="#g">Musik</hi> durch ihr<note place="right">1.</note> <lb n="pvi_1175.015"/> Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geisteslebens, <lb n="pvi_1175.016"/> die <hi rendition="#g">Zeitform</hi> gemein. Sie wendet sich nun mit dieser Form zunächst,<note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1175.017"/> wie jene, an das <hi rendition="#g">Gefühl,</hi> indem sie nicht nur musikalische Kunstwerke für <lb n="pvi_1175.018"/> das innerlich gesetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, sondern, was <lb n="pvi_1175.019"/> ungleich wichtiger ist, indem sie mit der Tonkunst den Jnhalt theilt und mit <lb n="pvi_1175.020"/> ihrem eigenen Mittel, in gewisser Beziehung sogar umfangreicher, Stimmungen <lb n="pvi_1175.021"/> darstellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunst, das Sichtbare, <lb n="pvi_1175.022"/> mit dem der Musik, der innern Welt, so zu vereinigen und die unmittelbare <lb n="pvi_1175.023"/> Herkunft von der letztern so zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus <lb n="pvi_1175.024"/> <hi rendition="#g">empfunden</hi> sind, daß sie dadurch lebendiges Gefühl der Zustände mittheilt. <lb n="pvi_1175.025"/> Endlich gibt sie gemäß dieser nahen Verwandtschaft und um nicht alle äußere<note place="right">3.</note> <lb n="pvi_1175.026"/> Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunst <lb n="pvi_1175.027"/> verwandte, ursprünglich für musikalischen Vortrag wirklich bestimmte, <hi rendition="#g">rhythmische <lb n="pvi_1175.028"/> Form.</hi></p> <lb n="pvi_1175.029"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem <lb n="pvi_1175.030"/> zum Wort articulirten Ton abzusehen und bestimmt hervorzuheben, daß die <lb n="pvi_1175.031"/> Poesie mit der Musik die Form des Nacheinander, die Zeitform, also die <lb n="pvi_1175.032"/> des psychischen Lebens theilt. Der Boden des Geistes ist erreicht und wird <lb n="pvi_1175.033"/> nicht wieder verlassen, sondern in die Tiefe bearbeitet. Es ist aber hier, wo <lb n="pvi_1175.034"/> es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen <lb n="pvi_1175.035"/> des Nebeneinander ankommt, diese Bestimmung genauer anzusehen. Der <lb n="pvi_1175.036"/> Geist ist keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, sondern er ist <lb n="pvi_1175.037"/> zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anschauen des Nebeneinander, <lb n="pvi_1175.038"/> also des Gleichzeitigen. Es ist falsch, wenn man sagt, der Geist </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1175/0037]
pvi_1175.001
Eindrücke gleichen den tonischen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte pvi_1175.002
für sie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf gestützt pvi_1175.003
genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber stark ergreifenden pvi_1175.004
Wahrnehmungen dieser Art zu vergegenwärtigen. Allerdings pvi_1175.005
darf er sie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von pvi_1175.006
Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen, pvi_1175.007
es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poesie eigentlich kein pvi_1175.008
neues Erscheinungsgebiet erobert, daß er sie aber nicht zu scheuen hat, daß pvi_1175.009
sie im Gegentheil bedeutende ästhetische Hebel für ihn werden können, ist pvi_1175.010
schon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird sie wie eine tiefe Symbolik pvi_1175.011
mit menschlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung setzen, Aufregungen pvi_1175.012
der bedeutendsten Art aus ihnen entspringen lassen.
pvi_1175.013
§. 839.
pvi_1175.014
Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der Musik durch ihr pvi_1175.015
Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geisteslebens, pvi_1175.016
die Zeitform gemein. Sie wendet sich nun mit dieser Form zunächst, pvi_1175.017
wie jene, an das Gefühl, indem sie nicht nur musikalische Kunstwerke für pvi_1175.018
das innerlich gesetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, sondern, was pvi_1175.019
ungleich wichtiger ist, indem sie mit der Tonkunst den Jnhalt theilt und mit pvi_1175.020
ihrem eigenen Mittel, in gewisser Beziehung sogar umfangreicher, Stimmungen pvi_1175.021
darstellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunst, das Sichtbare, pvi_1175.022
mit dem der Musik, der innern Welt, so zu vereinigen und die unmittelbare pvi_1175.023
Herkunft von der letztern so zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus pvi_1175.024
empfunden sind, daß sie dadurch lebendiges Gefühl der Zustände mittheilt. pvi_1175.025
Endlich gibt sie gemäß dieser nahen Verwandtschaft und um nicht alle äußere pvi_1175.026
Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunst pvi_1175.027
verwandte, ursprünglich für musikalischen Vortrag wirklich bestimmte, rhythmische pvi_1175.028
Form.
1.
2.
3. pvi_1175.029
1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem pvi_1175.030
zum Wort articulirten Ton abzusehen und bestimmt hervorzuheben, daß die pvi_1175.031
Poesie mit der Musik die Form des Nacheinander, die Zeitform, also die pvi_1175.032
des psychischen Lebens theilt. Der Boden des Geistes ist erreicht und wird pvi_1175.033
nicht wieder verlassen, sondern in die Tiefe bearbeitet. Es ist aber hier, wo pvi_1175.034
es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen pvi_1175.035
des Nebeneinander ankommt, diese Bestimmung genauer anzusehen. Der pvi_1175.036
Geist ist keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, sondern er ist pvi_1175.037
zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anschauen des Nebeneinander, pvi_1175.038
also des Gleichzeitigen. Es ist falsch, wenn man sagt, der Geist
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |